Süddeutsche Zeitung

Naturschutz:Wo die Donau noch ein wilder Fluss sein darf

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Von Christian Sebald

Wer den bayerischen Dschungel erleben will, muss in die Auwälder bei Neuburg an der Donau fahren. In das Naturwaldreservat Mooser Schütt zum Beispiel, im Westen von Neuburg, wo die Friedberger Ach erst in die Kleine Paar und dann in die Donau mündet. Auf dem sumpfig-nassen, von Wassergräben durchzogenen Gelände wuchert ein schier undurchdringliches Dickicht aus Weißdorn, Schlehen, Heckenkirschen und allen möglichen anderen Sträuchern.

Aus ihnen heraus ragen Eschen, Ulmen und knorrige Eichen in den Himmel. Immer wieder trifft man auf mächtige Schwarzpappeln, man erkennt sie an den krumm gewachsenen bizarren Stämmen. Noch haben längst nicht alle Büsche und Bäume ihr Blattwerk ausgetrieben, sodass man gut in den wilden Auwald hineinsieht. Mit etwas Glück kann man dieser Tage dort Bachen beobachten, wie sie ihre Frischlinge säugen.

Mitten im Dickicht stehen Roland Weigert und Siegfried Geißler. Der eine ist Landrat des Landkreises Neuburg-Schrobenhausen, der andere Landschaftspfleger und Chef der Naturschutzbehörde am Landratsamt. "Unsere Auwälder hier zählen zu den ökologisch wertvollsten Lebensräumen nicht nur in Bayern, sondern in ganz Deutschland", sagt Landrat Weigert, 49, mit weit ausladender Geste. "Wenn es der Staatsregierung ernst ist mit ihrer Initiative für einen dritten Nationalpark im Freistaat, dann darf sie unsere Region nicht außen vor lassen." Geißler, der sich seit Jahrzehnten für den Erhalt der Neuburger Auwälder einsetzt, nickt energisch. "Wir haben nur noch ganz wenige Auwald-Relikte hier in Mitteleuropa", sagt Geißler, der zehn Jahre älter ist als sein Landrat. "Die bei uns hier zählen zu den weitläufigsten und artenreichsten."

Vor einem Dreivierteljahr hat Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) versprochen, zusätzlich zu den Nationalparken im Bayerischen Wald und in Berchtesgaden einen dritten einzurichten. Rein fachlich gesehen ist und bleibt der natürliche Anwärter darauf der unterfränkische Spessart mit seinen urtümlichen Buchenwäldern. Da sind sich Experten und Naturschutzverbände einig. Allein in den Dörfern in Unterfranken ist der Widerstand gegen einen Nationalpark Spessart so wütend und lautstark, dass sich Seehofer höchstwahrscheinlich hüten wird, ausgerechnet dort sein Versprechen einzulösen. Schließlich hat er fest zugesagt, das neue Großschutzgebiet auf keinen Fall gegen den Willen der ortsansässigen Bevölkerung einzurichten. Und so rücken jetzt plötzlich die Auwälder bei Neuburg an der Donau in den Fokus der Nationalpark-Diskussion. Bisher galten sie als zweite Wahl.

"Mit Natur hat die Donau hier überhaupt nichts mehr zu tun"

Natürlich verwahren sich Weigert und Geißler gegen das Urteil "zweite Wahl". Aber es gibt schon einen triftigen Grund dafür: die Donau. Mit dem Jahrtausende lang wild mäandernden Naturstrom, der jedes Frühjahr aufs Neue über die Ufer trat, das Land weit überschwemmte, mächtige Kiesbänke und Inseln formte und sie wieder abtrug, hat die bayerische Donau nämlich nichts mehr zu tun. Im Gegenteil: Wie beinahe alle Bäche und Flüsse im Freistaat ist auch sie seit Jahrzehnten fast auf gesamter Länge begradigt und kanalisiert, zwischen mächtige Dämme und Deiche eingezwängt und alle paar Kilometer mit Wehren und Staustufen verbaut. Die vormaligen Überschwemmungsgebiete sind seit dem 19. Jahrhundert trockengelegt für Ackerland und Siedlungen.

Das ist auch an den ungefähr 31 Flusskilometern zwischen der Einmündung des Lechs und Ingolstadt der Fall, an denen die Neuburger Auwälder liegen. Vier Staustufen reihen sich dort aneinander. An jeder hängt ein Wasserkraftwerk, ein jedes produziert um die 120 Millionen Kilowattstunden Strom im Jahr. Bei Bertoldsheim und vor Ingolstadt ist die Donau zu gigantischen Seen zurückgestaut. Im Sommer tummeln sich an ihnen Tausende Ausflügler, auch bei Ruderern und Seglern sind sie sehr beliebt. "Mit Natur hat die Donau hier überhaupt nichts mehr zu tun", räumt der Naturschützer Geißler ein, "selbst die Angler würden aus ihr kaum noch Fische herausholen können, wenn ihre Vereine nicht jedes Jahr Zigtausende einsetzen würden."

Anders die ungefähr 5000 Hektar Auwald, die sich als ein bis zu drei Kilometer dickes Band östlich und westlich von Neuburg an der Donau entlangziehen. Zwar hat die Regulierung der Donau auch in ihnen tiefe Spuren hinterlassen. Dennoch kommt die Natur längst wieder zu ihrem Recht. Der eine oder andere Teil bleibt inzwischen sogar wieder sich selbst überlassen, Forstwirtschaft ist dort tabu. Wer sich auf einem Pfad in so ein Gebiet hineintraut, muss immer wieder über umgestürzte Bäume klettern. Die meisten sind von Bibern gefällt worden. Nun vermodern sie am Boden und sind Lebensraum für Abermillionen Insekten, Käfer und anderes Getier. Aus Senken und Gruben, die der Kiesabbau hinterlassen hat, sind verwunschene Teiche und Seen entstanden, mit breiten Schilfgürteln an den Ufern.

Ähnlich ist das mit zahlreichen vormaligen Entwässerungsgräben. Sie sind nun eingewachsene Wasserläufe, die im Frühjahr über die Ufer treten und später im Sommer austrocknen. Und immer wieder stößt man auf Brennen. Das sind Kiesbänke, welche die Donau einst aufgeschüttet hat. Im Lauf der Zeit hat sich auf ihnen eine dünne Humusschicht mit Magerrasen gebildet. Die Brennen heizen sich im Sommer stark auf. Auf ihnen gedeiht eine Vielfalt an Enzianen und Orchideen, wie man sie sonst nur im Gebirge findet. "Das purpurne Brand-Knabenkraut etwa und das extrem seltene Wanzen-Knabenkraut", zählt Siegfried Geißler auf. "Aber auch der Hummel-Ragwurz kommt hier vor."

Überhaupt der Reichtum der Fauna und Flora. Geißler spricht von allein 250 Vogelarten, die hier heimisch sind oder überwintern, unter ihnen alle möglichen Enten und Schwäne, aber auch der dunkelblau gefiederte, blitzschnelle Eisvogel. Dazu Seeadler, Schwarzmilan, Uhu, Mittelspecht und andere streng geschützte Arten. Eine Besonderheit sind auch die Springfrösche und Gelbbauchunken. "Beide sind Leitarten für unsere Region", sagt Geißler, "von beiden dürften wir hier die weitaus größten Populationen in Bayern haben." Und dann sind da noch der Schwarzkäfer, wissenschaftlich Neatus picipes, und das Bayerische Federgras. Der eine kommt bayernweit nur in den Neuburger Auwäldern vor, das andere ist sogar weltweit nur dort anzutreffen. Botanisch nicht so bewanderte Naturliebhaber erfreuen sich im Frühjahr an dem Meer weiß blühender Märzenbecher auf den Waldböden.

Im Landkreis Neuburg-Schrobenhausen hat man den hohen Wert der Neuburger Auwälder früh erkannt. Der inzwischen gestorbene Alt-Landrat Richard Keßler, der für einen CSU-Politiker ein einzigartiges Faible für die Natur hatte, und der Naturschutz-Mann Geißler tüftelten schon vor 20 Jahren an ersten Konzepten nicht nur für den Erhalt, sondern die Renaturierung der Neuburger Auwälder.

Vor zwölf Jahren ließen sie im Osten von Neuburg einen neuen, satte acht Kilometer langen Donauseitenarm durch den Auwald graben. Der Bach ist nicht nur ein Segen für Äschen, Nasen, Huchen, Forellen und andere Fische, die in dem neuen Seitenarm wieder den Fluss aufwärts und abwärts wandern können. Sondern auch für die Renaturierung des Auwalds. "Nun können wir ihn nämlich großflächig überschwemmen", sagt Geißler "und damit gleichsam die vormalige Dynamik der Donau wieder in Gang setzen."

Hundert Hektar Fläche haben sie seit 2011 mit ihren "ökologischen Überflutungen", wie Geißler die Renaturierung der Aue nennt, in eine schwer zugängliche Sumpflandschaft verwandelt. Schon aus der Ferne erkennt man, dass bereits alle Bäume dort abgestorben sind. Überall ragen ihre Stämme, die kein Laub mehr austreiben, knochig schwarz in den grauen Aprilhimmel. Am Boden wuchert dicht an dicht vom Winter ausgebleichtes Schilf. "Das ist Wildnis", sagt Geißler. "Zwar von Menschenhand gemachte Wildnis, aber so nah an den natürlichen Abläufen in den Auwäldern, wie man das in unserer modernen Zeit nur machen kann."

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Quelle:
SZ vom 22.04.2017
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