Fotokunst:Wie ein Grafenauer Gastronom die Fotocommunity mit Porträtkunst beeindruckt
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Raphael Guarino könnte wohl auch von der Fotografie leben - doch für den Inhaber der ältesten Pizzeria im Bayerischen Wald hat seine Kunst einen ganz anderen Zweck.
Von Hans Kratzer, Grafenau
Soeben hat die Turmuhr der Grafenauer Stadtpfarrkirche geschlagen, es ist kurz nach 14 Uhr, im Restaurant "da Peppo" wird der letzte Mittagsgast mit einem freundlichen Gruß verabschiedet. Raphael Guarino, der Chef, atmet durch, in drei Stunden wird er das Lokal wieder aufsperren. Er wirft einen Blick durch die Eingangstür. Könnte ja sein, dass sich auf der Straße ein Motiv anbietet, zufällig.
Guarinos Leidenschaft ist die Fotografie. Die Kamera liegt stets in seiner Nähe. Momentan rührt sich draußen freilich gar nichts, kein Wunder, denn der Winter klammert sich in dieser Gegend heftiger an die Häuser als anderswo. Wie sagt doch ein alter Spruch: "Sieben Monat Winter, fünf Monat kalt - so ist das Klima im Bayerischen Wald."
Guarino führt den Reporter vom Lokal aus über eine Stiege in sein Studio. Es ist ein Ort zum Staunen. Die Wände dieses lichtdurchfluteten hohen Raums sind flächig behängt mit großen gerahmten Bildern. Die überwiegend klassischen Schwarz-weiß-Porträts lenken den Blick des Betrachters geradezu magisch auf sich.
Guarino hat Charakterköpfe jeglicher Sorte meisterhaft abgelichtet. Manche Häupter erinnern mit ihrer südländischen Ausstrahlung an den früheren coolen Milan-Fußballer Paolo Maldini, andere wirken in ihrer Kantigkeit, als seien sie kurzerhand einem Quentin-Tarantino-Film entsprungen. Zarte, kirschbackige Mädchengesichter hängen neben faltigen Antlitzen, wie sie auch der große August Sander vor 70, 80 Jahren stilbildend mit der Kamera festgehalten hat.
Von dem Schriftsteller Karl Krolow stammt das großartige Sprachbild, wonach jemand Licht aus dem Fenster schüttete. Im Studio von Raphael Guarino scheint das Licht den umgekehrten Weg genommen zu haben, auf keinen Fall aber chaotisch, sondern die Porträts raffiniert und nuancenreich schärfend. Guarino leitet ein Restaurant, er fotografiert nicht professionell, sondern nur aus Neigung. Das hindert ihn aber nicht, mit seinen Porträts und seiner eigenwilligen Bildsprache Aufsehen zu erregen.
Auf der beliebten Internet-Plattform fotocommunity.de überschlagen sich Guarinos Fans schier vor Begeisterung. "Unfassbar gut!", "bin überwältigt!", "die stärksten Bilder, die ich kenne" und: "Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen - ich glaube, du schon!" So schwärmen die Betrachter über Guarinos Bilder.Derlei Lobgesänge sind in der Fotografieszene eher selten zu hören.
"Klar freut mich das!", sagt Guarino, aber grundsätzlich sind Lorbeeren nicht das, worauf er mit seiner Kunst abzielt. "Ich fotografiere Menschen, weil ich ein Stück Raum und Zeit einfangen will." Er will mit seinen Porträts Geschichten erzählen, Vergängliches dokumentieren. Vor ihm hängt ein Foto, bei dem ihm das besonders gut gelungen ist.
Es zeigt eine alte Bäuerin, die Großmutter seiner Frau. Tief haben sich die Furchen eines langen Lebens in ihr Gesicht eingegraben, und doch strahlt diese Person eine große Würde aus. "Ich versuche beim Fotografieren den Moment zu erwischen, in dem ich kurz in die Seele der Menschen schauen kann", sagt Guarino. Und das beherrscht er ziemlich gut - obwohl ihm für sein Hobby nicht die Zeit bleibt, die er sich wünschen würde.
So wie einst der große Cartier-Bresson fotografierend durch die Straßen zu flanieren, das würde ihm gefallen. Gleichwohl, die Fotografie professionell zu betreiben, das kam für ihn nie in Frage. Die Guarinos haben sich im Bayerischen Wald auch gastronomisch einen glänzenden Ruf erworben.
Ihre Geschichte in Bayern begann 1959, nachdem die Spiegelauer Glasfabrik in Neapel Glasschleifer für das heimische Werk angeworben hatte. Einer von ihnen war Raphaels Vater Giuseppe Guarino. Der gewöhnte sich zwar erst ein, nachdem er hier seine große Liebe gefunden hatte, aber dann eröffnete er in Grafenau eine Pizzeria mit Eisdiele, es war die erste Lokalität dieser Art im Bayerischen Wald. Drei Sorten Pizza bot er damals an, dazu Spaghetti mit Tomatensoße (Napoli) und mit Hackfleischsoße (Bolognese) sowie Salate, "mehr hat's ned gebn", sagt Giuseppe Guarino, der auch im hohen Alter noch in der Küche steht und ansonsten als Tifoso wie seit eh und je die Gazzetta dello Sport liest.
Über die Guarinos lernten die Waidler also die Pizza kennen. Die alte Eismaschine, die erste Kaffeemaschine und die früheste Bestuhlung des Lokals werden künftig im Museum der Bayerischen Geschichte in Regensburg zu sehen sein, das 2018 eröffnet wird. Auch die Fotos, die im Lokal hängen, erzählen viel von dieser erfolgreichen Familiengeschichte.
Besonders eindrucksvoll wirken auch die Porträts, die Raphael Guarino von seinem Vater gemacht hat. Er schaut darauf sehr streng, was er in Wirklichkeit gar nicht ist. Überhaupt sieht man auf Guarinos Bildern selten lachende Gesichter. "Das ist auch nicht meine Intention", sagt er. Lieber versucht er, sich den Gefühlen und Emotionen eines Menschen anzunähern. Die Fotografie hat für ihn viel mit Melancholie zu tun.
Dies hat auch der Regisseur Pier Paolo Pasolini 1974 in einem Essay zum Ausdruck gebracht, in dem er fast sentimental die Vergänglichkeit des alten Landlebens beklagt, einer Welt, der er nachtrauerte. Guarino steht überdies in einer Linie mit anderen Bayerwald-Fotografen, die diese erloschene Welt meisterhaft eingefangen haben, etwa der 2009 gestorbene Bruno Mooser aus Straubing. Auch er erkannte früh, dass da eine Welt vergeht, die eine Ewigkeit lang Bestand hatte. Deshalb hielt er arbeitende Hände fest, Gesichter, Arbeitsabläufe. Als Betrachter schaut man gebannt auf diese Momentaufnahmen, in denen sich diese Melancholie des Verlustes widerspiegelt.
So kunstvoll seine Bilder auch wirken, Guarino fotografiert ohne großen technischen Aufwand. Eine künstliche Lichtquelle, das reicht ihm. Dazu eine schon etwas ältere Kamera. "Welchen Fotoapparat du benützt, ist nebensächlich", sagt er, "wichtig ist, dass du deine Kamera gut kennst, dass du weißt, wie sie reagiert." Die Bilder mache der Mensch, nicht die Maschine. Guarino verweist diesbezüglich auf eine Episode, die der Starfotograf Helmut Newton in einem Sternelokal erlebt haben soll. Der Koch kam demnach an den Tisch und sagte: "Herr Newton, sie machen sehr schöne Bilder, sie müssen eine sehr gute Kamera haben." "Mein Herr, antwortete Newton, sie kochen sehr gut, sie müssen sehr gute Kochtöpfe haben."
Schon oft hat Guarino zu hören bekommen, er hätte doch ein professioneller Fotograf werden sollen. Er antwortete dann immer: "Ich bin ein Fotograf, aber ich will nicht damit gefällig sein. Ich will kein Geld damit verdienen." Er geht lieber den umgekehrten Weg, nur der eröffnet ihm den Zugang zur Seele eines Menschen. "Ich versuche einfach das herauszuarbeiten, was Bildhauer, Maler und Fotografen in der Kunst seit ewigen Zeiten versuchen." Schnell ist die Zeit verflogen, es ist 17 Uhr. Raphael Guarino muss wieder zurück in das Lokal, in sein anderes Leben, das Thema Fotografie ist für heute abgehakt.