Süddeutsche Zeitung

Dritte Corona-Welle:Bayerns Kliniken sind am Anschlag

Lesezeit: 4 min

Weil immer mehr Intensivbetten mit Covid-19-Patienten belegt werden, müssen Operationen verschoben werden. Die Kliniken warnen: "Wir schieben da einen Berg vor uns her."

Von Dietrich Mittler, München

Das Warten vieler Menschen auf ihren im Grunde längst fälligen OP-Termin nimmt kein Ende. Aufgrund der stetig steigenden Zahl an Covid-19-Patienten sehen sich Bayerns Krankenhäuser nun erneut gezwungen, planbare Operationen wie etwa am Knie oder die Entfernung fortgeschrittener Adenome (Vorstufen eines Darmkrebses) zu verschieben - müssen sie doch die Hälfte ihrer Intensivkapazitäten für schwerst erkrankte Corona-Infizierte bereithalten. "Wir schieben da einen Berg vor uns her. Die zunehmende Beanspruchung durch Covid-19-Patienten geht einfach zu Lasten aller anderen Erkrankten", sagt Roland Engehausen, der Geschäftsführer der bayerischen Krankenhausgesellschaft (BKG).

Es gibt laut Engehausen augenblicklich keine Statistiken, aus denen sich die wahre Dimension des Problems ablesen lässt. Selbst einige Tumorpatienten sind derzeit unter denjenigen, die pandemiebedingt auf die Warteliste gesetzt werden. Ihre Angst bleibt anonym. Und auch das ist klar: Jene Patienten, die nun bereits zum zweiten Mal von ihrer Klinik eine Absage erhalten, werden nicht gesünder in der Zeit des Ausharrens - von den körperlichen Beschwerden, die sie weiter erdulden müssen, ganz zu schweigen. Bisweilen drohen gar Leben in Gefahr zu geraten - etwa dann, wenn, wie unter Ärzten kolportiert wird, dringend notwendige OPs nach Oberschenkelhalsbrüchen verschoben werden.

Laut Engehausen sehen sich im Moment zwar noch nicht alle Krankenhäuser im Freistaat gezwungen, planbare Behandlungstermine zu streichen - aber es werden zunehmend mehr. "Der Anteil der Covid-19-Patienten hat sich in den zurückliegenden drei Wochen verdoppelt - und er wird weiter steigen", sagt der BKG-Geschäftsführer. Seine Prognose: "Wir werden Ende April auf den Intensivstationen der bayerischen Krankenhäuser den höchsten Stand an Covid-19-Patienten haben. Wenn jetzt kein Ruck durch die Politik und durch die Bevölkerung gehe, sehe er schwarz. Engehausen drückt es jedoch betont vorsichtig aus: "Wenn die Zahl der Neuinfizierten nicht runtergeht, dann werden wir ab Mai in einem Bereich sein, den wir nicht kennen." Das Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (LGL) meldete - Stand Donnerstagmorgen - bayernweit mehr als 5400 neue Infektionsfälle. Damit liegt die landesweite Sieben-Tage-Inzidenz pro 100 000 Einwohner bei 182,48 (173,99 am Mittwoch).

"Wir befürchten einen Ostereffekt mit drastisch steigenden Fallzahlen"

Aktuell werden mehr als 2500 Covid-19-Patienten stationär behandelt. Situationsberichte aus großen bayerischen Kliniken: "Die Lage ist insbesondere auf den Intensivstationen sehr angespannt. Die Kapazitäten werden zunehmend eng" - Klinikum Nürnberg. "Große Sorgen bereitet uns der Behandlungsstau im Bereich intensivpflichtiger Nicht-Covid-Patienten" - Uniklinikum Augsburg. "Wir befürchten einen Ostereffekt mit drastisch steigenden Fallzahlen innerhalb der nächsten drei, vier Wochen und hoffen, dass es nicht so schlimm kommt, wie manche befürchten" - Uniklinikum Erlangen. "Augenblicklich gibt es noch geringfügig Intensivkapazitäten, die für die regionale Versorgung nötig sind" - Uniklinikum Regensburg. "Freie Betten haben wir nur noch, weil wir in den letzten Wochen immer wieder Patienten in andere Regionen verlegen konnten" - Klinikum Landshut.

Auch die Zahlen des Gesundheitsministeriums spiegeln den Ernst der Lage wider: Aktuell sind demnach 700 Intensivbetten mit Covid-19-Patienten belegt. Vor drei Wochen waren es lediglich 508. Augenblicklich sind noch 343 Intensivbetten mit der Möglichkeit zur invasiven Beatmung frei. Eine Ministeriumssprecherin erklärte auf Nachfrage: "Wenn sich diese Entwicklung ungebremst fortsetzt, sind die Höchstwerte der bisherigen Pandemiewellen in den nächsten ein bis zwei Wochen erreicht." Nur zur Verdeutlichung: Auf dem Höhepunkt der ersten Corona-Welle am 15. April 2020 mussten 767 Covid-19-Patienten intensivmedizinisch versorgt werden, auf dem Höhepunkt der zweiten Welle am 3. Januar 2021 waren es bereits 822.

Es lässt sich an allen zehn Fingern abzählen, dass dies auch für Patienten Folgen hat, die nicht an Covid-19 erkrankt sind. "Bei einem deutlichen Überschreiten des bisherigen Höchstwerts droht eine Beeinträchtigung der Krankenhausversorgung, insbesondere der regulären Notfallversorgung", heißt es aus dem Ministerium. Dennoch hofft man dort, dass "das gesamte und bewährte Instrumentarium", das während der ersten beiden Corona-Wellen entwickelt wurde, nun "in praxisorientierter, optimierter Form" die Krankenhäuser des Freistaats durch die dritte Welle bringt. Die gute Nachricht: Das Ministerium geht "derzeit" nicht davon aus, dass in bayerischen Kliniken Ärzte dazu gezwungen sein werden, entscheiden zu müssen, welchen Patienten sie vom Beatmungsgerät abhängen, um dort andere mit höherer Überlebensperspektive anzuschließen.

"Dass wir Patienten nicht mehr behandeln, kann ich mir in einem Land wie Deutschland nicht vorstellen", sagt der Passauer Anästhesist Andreas Baumann. Ihm als einem der Ärztlichen Leiter Krankenhauskoordinierung in Bayern ist es mit zu verdanken, dass das Thema Triage bislang nur als Leitlinie für den Ernstfall in den Büros der Krankenhauschefs bereitliegt. Baumann organisiert Patientenverlegungen aus Häusern, deren Intensivkapazitäten erschöpft sind. Auch im Rettungszweckverband Passau spitzt sich die Lage zu. Noch ist das Klinikum in seiner Heimatstadt dazu in der Lage, Patienten auch aus Landshut und Straubing aufzunehmen. "Ich gehe davon aus, dass in 14 Tagen auch unsere Betten voll sein werden", sagt er. Und dann? "Dann werden die Transportstrecken halt weiter werden", sagt er.

Georg Marckmann, Professor für Medizinethik an der Ludwig-Maximilians-Universität in München, gehört zu den federführenden Autoren der deutschen Triage-Leitlinien. Triage-Entscheidungen, so sagt er, sind für die Beteiligten "eine große Herausforderung und Belastung", "ein moralisches Dilemma", das sich im Grunde "nicht auflösen" lässt. Leitlinien könnten also nur dazu dienen, "die Tragik der Entscheidungssituation etwas zu verringern".

So weit wird es nicht kommen, hofft BKG-Chef Roland Engehausen. Doch er nennt auch den Preis dafür: die vielen Patienten, die nun auf ihre OP warten müssen.

Hinweis der Redaktion: In einer früheren Fassung dieses Beitrags hieß es im Titel, Bayerns Kliniken seien am Anschlag, weil "fast alle Intensivbetten wieder mit Corona-Patienten belegt" seien. Das trifft so nicht zu, der Intensivbetten-Anteil für Covid-19-Patienten in Bayern beträgt derzeit knapp ein Viertel. Richtig ist, dass die Zahl der intensivmedizinisch betreuten Covid-19-Patienten in Bayern derzeit stark ansteigt, so dass Kliniken die sich abzeichnende Überforderung ihrer Intensivstationen befürchten.

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Quelle:
SZ vom 16.04.2021
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