Süddeutsche Zeitung

Bayerischer Sprachatlas:Wo die Mädchen noch Mensch heißen

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Da ist man mittendrin in den Dialekten Niederbayerns - und damit man die Worte nicht nur lesen, sondern auch sagen kann, gibt es nun einen "Sprechenden Sprachatlas".

Von Hans Kratzer, München

Die Sprache der Niederbayern klingt bei manchen Gelegenheiten durchaus ein bisserl grob, aber dafür hat sie etwas sehr Direktes, und ihre Bildhaftigkeit ist sowieso berühmt. So sagen etwa die Menschen im Rottal und im Bayerischen Wald nicht, sie gingen auf eine Beerdigung, sondern sie "gehen in d'Leich". Und wenn sie dann beim Leichenmahl (Kremess) gut gegessen und getrunken und dem Verstorbenen überdies mit einem feinen Räuschlein die allerletzte Ehre erwiesen haben, dann war es am Ende sogar "eine schöne Leich".

Allerdings wird der Dialekt durch den gesellschaftlichen Wandel, durch stetigen Zuzug und durch Medieneinfluss immer stärker abgeschliffen. Seit vielen Jahren werden deshalb die Mundarten im Freistaat mithilfe des Großprojekts "Bayerischer Sprachatlas" dokumentiert. Dabei werden flächendeckend Dialekte, Begriffe und Redensarten erfasst und in Atlanten dargestellt. Es ist also auch ein Archiv der sterbenden Wörter. Mittlerweile werden die auf Bändern gespeicherten Aussagen der Gewährsleute nicht mehr nur schriftlich, sondern auch akustisch präsentiert.

Die Bayerische Staatsbibliothek München und die Universität Passau haben soeben in einem Kooperationsprojekt den " Sprechenden Sprachatlas von Niederbayern und dem angrenzenden Böhmerwald" ins Internet gestellt. Die gut 6000 Tondokumente aus 207 niederbayerischen und 22 tschechischen Orten wurden vom Lehrstuhl für Deutsche Sprachwissenschaft der Universität Passau im Rahmen verschiedener sprachgeografischer Projekte zusammengetragen und wissenschaftlich ausgewertet. Die Bayerische Staatsbibliothek integrierte die Audiodateien in 32 digitale Karten, das Ergebnis wurde vor wenigen Tagen über die Plattform "Bayerische Landesbibliothek online" der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.

"Die sprechenden Sprachatlanten gehören zu den beliebtesten digitalen Angeboten der Bayerischen Landesbibliothek online", sagt Klaus Ceynowa, Generaldirektor der Bayerischen Staatsbibliothek. Außer der niederbayerischen Fassung sind bereits eine gesamtbayerische und eine schwäbische Version ( hier) online zu hören, allerdings in einem - verglichen mit dem schriftlichen Atlas - abgespeckten Umfang.

Die unterfränkische Variante des Sprechenden Sprachatlas ist in Vorbereitung, bis zu ihrer Fertigstellung werden wohl noch ein bis zwei Jahre ins Land gehen, sagt Stephan Kellner, Leiter des Referats Bavarica in der Staatsbibliothek.

Manche Worte sind hüben wie drüben gleich

Ihn fasziniert an der Karte für Niederbayern, dass dort auch Gewährsleute aus dem Böhmerwald aufscheinen, vor allem aber, dass kaum Unterschiede zwischen den in Tschechien und in Niederbayern gesprochenen Wortvarianten zu hören sind. Mädchen heißen hüben wie drüben Deandl, Diandl, Madl, Moidl, Mensch oder Mesch. Die Großmutter heißt je nach Region Großmam, Al, Nan oder Ofrau.

An der Universität Passau sei schon Ende der Neunzigerjahre der erste Sprechende Sprachatlas in Bayern erstellt worden, erklärt Rüdiger Harnisch, Inhaber des dortigen Lehrstuhls für Deutsche Sprachwissenschaft. Umso schöner findet er es, dass die dabei aufgenommenen Tondokumente nun über die bisherigen CD-ROMs hinaus auf einer weiteren Plattform präsentieren werden können. Sowohl auf CD als auch im Netz kann man sich per Mausklick anhören, wie ausgewählte Begriffe in verschiedenen Orten bezeichnet und ausgesprochen werden. Gleichzeitig kann der Benützer das gehörte Wort ablesen.

Der Hörer begibt sich auf eine virtuelle Sprachreise, wobei er nach Belieben auf Landkreise, Dörfer und Sprachbegriffe zugreifen kann. Während ein wortarmes Einheitsdeutsch und Universalenglisch wohl das künftige Maß aller Dinge sein wird, belegen der niederbayerische und der schwäbische Sprachatlas schon auf engstem Raum eine immense Wortvielfalt.

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SZ vom 29.03.2017
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