Süddeutsche Zeitung

Logistik:Wie die Bahn mehr Güter auf die Schiene bringen will

Lesezeit: 5 min

Der Konzern will im Güterverkehr wachsen und investiert dazu in neue Technik bei Rangierbahnhöfen und Wagen. Aber reicht das, um die Lkw von den Autobahnen zu holen?

Von Marco Völklein

Wer schon mal mit einem Güterzug quer durch Deutschland gefahren ist, der weiß: Der Schienengüterverkehr ist eine Branche, in der es noch sehr archaisch zugeht. Die Waggons werden von Hand gekuppelt, vor der Abfahrt muss ein Wagenmeister jeden Wagen sichten, wird ein Zug neu zusammengestellt oder eine andere Lok vor die Waggons gespannt, muss eine aufwendige Bremsprobe gemacht werden. Dazu läuft ein Mitarbeiter den Zug mehrmals ab. All das funktioniert noch so, wie es auch schon vor 100 Jahren bei der Eisenbahn lief. Es ist aufwendig, kostet viel Zeit - und noch mehr Geld. Doch wenn es nach der Deutschen Bahn (DB) und Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) geht, dann soll sich das in den kommenden Jahren drastisch ändern. "Noch sitzt die Intelligenz bei uns vor dem Rechner", sagt Sigrid Nikutta, die Chefin der Güterverkehrssparte DB Cargo. Künftig soll der Schienengüterverkehr digitaler werden.

Dazu will die Bahn ihre bundesweit neun großen Rangierbahnhöfe mit viel zusätzlicher Technik aufrüsten. Eine automatische, nahezu autonom verkehrende Abdrücklokomotive zum Beispiel, ausgestattet mit zahlreichen Sensoren zur Umfelderkennung, soll die Waggons künftig auf den sogenannten Ablaufberg schieben. Von dort aus werden sie - das Prinzip ist auch seit 100 Jahren bekannt - unter Ausnutzung der Schwerkraft und mittels zahllosen Weichen auf Gleise verteilt und zu neuen Zügen zusammengestellt.

Die Bahn setzt auf künstliche Intelligenz

Die aufwendige Prüfung der einzelnen Waggons durch die Wagenmeister sollen in Zukunft Kameras übernehmen, die an einer Kamerabrücke installiert sind. Künstliche Intelligenz, also eine selbst dazulernende Software, soll das nach den Plänen der Bahn künftig übernehmen, die Waggons selbst sollen so ausgestattet sein, dass die Bremsprobe von einem Mitarbeiter am Zuganfang oder Zugende abgenommen werden kann - ohne dass der an dem bis zu 740 Meter langen Zug mehrmals auf- und abgehen muss. Und nicht zuletzt soll eine automatische, ebenfalls digital aufgerüstete Kupplung das Kuppeln von Hand ersetzen. Seit vergangenem Jahr läuft ein entsprechendes Forschungsprojekt; unklar ist dabei allerdings, wer für die Umrüstung der europaweit etwa 500 000 Güterwagen sämtlicher Bahnen aufkommen wird. Fachleute schätzen die Kosten dafür auf sechs bis acht Milliarden Euro.

Die anderen Bausteine wie automatisierte Abdrücklok oder die Kamerabrücke zur schnelleren Überprüfung der Wagen will die Bahn nun zunächst einmal am Rangierbahnhof München-Nord testen. Bewährt sich die Technik, könnte sie künftig auch auf anderen Rangieranlagen zum Einsatz kommen. Um bis zu 40 Prozent könnten die Kapazitäten so gesteigert werden, rechnet Nikutta vor.

Unterm Strich soll der Güterverkehr auf der Schiene durch all diese Maßnahmen wirtschaftlicher und attraktiver werden. Denn bislang ist vor allem der aufwendige Einzelwagenverkehr, bei dem einzelne Waggons bei Industrie- oder Dienstleistungsunternehmen abgeholt, auf Rangierbahnhöfen mit ihren Ablaufbergen zu Zügen zusammengestellt, dann quer durch Deutschland oder Europa gefahren und am Zielort wieder in einzelne Wagen oder Wagengruppen zerlegt und zum Kunden gebracht werden - dieser Einzelwagenverkehr ist zeit- und kostenintensiv. Mit der Automatisierung des Betriebs hofft die Bahn, billiger und damit konkurrenzfähiger zu werden gegenüber dem Lkw. "Das kann einen Schub in die richtige Richtung geben", sagt Martin Bulheller vom Bundesverband Güterkraftverkehr, Logistik und Entsorgung (BGL).

Um die Klimaziele zu erreichen, muss die Bahn gestärkt werden

Noch allerdings fährt die Cargo-Tochter der Deutschen Bahn Jahr für Jahr dreistellige Millionenverluste ein. Geht das so weiter, fürchten Branchenkenner, könnte die DB das Geschäft mit den Einzelwagen irgendwann komplett einstellen, ihre Rangierbahnhöfe schließen und sich somit aus der Fläche zurückziehen. Dann wären - wie in einigen anderen Ländern Europas - nur noch sogenannte "Ganzzüge" zwischen großen Industriestandorten unterwegs sowie Züge im kombinierten Verkehr, also beladen mit Containern, Wechselbrücken und Sattelzugaufliegern, die in Terminals rasch von den Waggons auf Lkw umgeladen werden können.

Aus umweltpolitischer Sicht allerdings wäre eine solche Entwicklung wohl verheerend. Denn um die ambitionierten Klimaziele zu schaffen, muss der Verkehrssektor den CO₂-Ausstoß massiv verringern. "Das geht nur, wenn mehr Verkehr von der Straße auf die Schiene verlagert wird", sagt Cargo-Chefin Sigrid Nikutta. Auch die Bundesregierung hat das Ziel ausgegeben, dass bis zum Jahr 2030 der Anteil der Bahn am gesamten Güterverkehr von derzeit 18 bis 19 Prozent auf dann 25 Prozent gesteigert wird. Nikutta will deshalb "mehr Güter ins System" holen, wie sie sagt, also mehr Unternehmen dazu bringen, ihre Waren nicht mehr auf der Straße, sondern über die Schiene zu verschicken.

Seit Monaten tourt sie von Veranstaltung zu Veranstaltung und wirbt bei den Verladern für die Schiene, insbesondere auch für das System der Einzelwagen, das sie als "Rückgrat" des Schienengüterverkehrs bezeichnet. Sie versucht auch, ihre nach Jahren des "Gesundschrumpfens" zum Teil demoralisierte Cargo-Belegschaft wieder zu motivieren. Und sie hat zusammen mit einem Dutzend kleinerer Bahnbetreiber erst vor Kurzem ein Bündnis zur Stärkung des Einzelwagenverkehrs geschmiedet.

Warum kommen Kooperationen erst jetzt?

In diesem Verbund wollen die Firmen künftig enger kooperieren und auch dann nach Lösungen suchen, wenn zum Beispiel ein kleiner Mittelständler nur ein oder zwei Güterwagen auf die Reise schicken will - und das auch noch in relativ unregelmäßigen Abständen. Die DB Cargo verfolge da mittlerweile "einen neuen Ansatz", konstatiert Peter Westenberger vom Netzwerk Europäischer Bahnen (NEE), einem Zusammenschluss mehrerer DB-Konkurrenten im Schienengüterverkehr. Ein "fairer Umgang" und ein "gemeinsames Vorgehen" stünden nun im Mittelpunkt, um zusammen mehr Güter auf die Schiene zu holen. Der Verkehrsforscher Christian Böttger von der Hochschule für Technik und Wirtschaft in Berlin ist indes skeptisch, ob das Kalkül aufgeht. Kooperationen seien zwar immer gut, sagt er. Die Frage bleibe aber, warum das nicht schon längst geschehen ist. "Der Einzelwagenverkehr hat fundamentale Probleme, und ich glaube nicht, dass die sich damit von alleine lösen lassen."

Auch Verbandsvertreter Westenberger und Cargo-Chefin Nikutta räumen ein, dass eine effizientere und flexiblere Abwicklung der Bahn-Transporte und eine bessere Ansprache möglicher Verlader allein wohl kaum mehr Waren von der Straße auf die Schiene holen werden. "Auch die politischen Rahmenbedingungen müssen sich ändern", sagt Westenberger. Nach wie vor werde der Lkw vom Gesetzgeber bevorzugt behandelt, etwa durch Vorteile bei der Dieselbesteuerung. Und während der Lkw zwar auf Autobahnen und einigen Bundesstraßen mittlerweile Maut bezahle, stünden die Zufahrten in nahezu jedes Gewerbegebiet kostenlos zur Verfügung. Anders bei der Bahn: Will dort ein Unternehmen einen Gleisanschluss einrichten, um mit Güterwaggons direkt auf das Firmengelände zu gelangen, müssen entweder das Unternehmen selbst oder ein Bahnbetreiber die Kosten dafür übernehmen. Die Zahl der Gleisanschlüsse sank daher in den vergangenen Jahren stetig, die Zahl der Lkw auf den Autobahnen indes wuchs und wuchs.

Das Netz insgesamt muss wachsen

Mittlerweile allerdings setzt auch hier ein Umdenken ein. So hat der Bund unter anderem ein Förderprogramm zur Reaktivierung beziehungsweise Neuerrichtung von Gleisanschlüssen aufgelegt. Doch auch wenn damit mehr Güter auf die Bahn geholt werden, das Bahnnetz selbst ist ebenfalls in weiten Teilen am Anschlag. Insbesondere "die Rennstrecken auf der Schiene sind schon ziemlich voll", sagt BGL-Sprecher Martin Bulheller. Ebenfalls eng geht es mittlerweile an vielen großen Bahnknoten zu - zumal es ja erklärtes Ziel der Bundesregierung ist, ebenfalls aus Gründen des Klimaschutzes parallel auch im Personenverkehr signifikant mehr Menschen von der Straße auf die Schiene zu holen.

Investitionen in weitere Gleisanlagen sind daher aus Sicht vieler Experten dringend nötig, zudem will die Bahn durch die Digitalisierung ihres bestehendes Netzes zusätzliche Kapazitäten schaffen - wenngleich diese Bemühungen zuletzt wegen der steigenden Kosten schon wieder etwas ins Stocken geraten sind. Und nicht zuletzt sind viele kleine Einzelmaßnahmen im Bahnnetz nötig, um mehr lange Güterzüge fahren zu lassen - auch das würde die Effizienz erhöhen und der Güterbahn im Konkurrenzkampf mit dem Lkw Kostenvorteile bringen.

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