Süddeutsche Zeitung

Kosmologie:Unterwegs zur Physik-Revolution

Lesezeit: 4 min

Von Marlene Weiß

Wer mit dem Auto auf der A96 von München nach Lindau fährt, kann Glück haben, und es läuft. Oder Pech, dann steht er im Stau. Oft aber ist es so: mal geht's schneller, mal langsamer voran. Wie in der Physik.

In den Sechziger- und Siebzigerjahren war die gar nicht mehr runtergekommen von der Überholspur. Schlag auf Schlag wurden neue Teilchen entdeckt, das bis heute gültige Standardmodell der Teilchenphysik entstand. Noch bis 2013 wurden körbeweise Nobelpreise für die Arbeit dieser Jahre verteilt. Einer ging 1976 an Samuel Ting, der heute 80 Jahre alt ist und in Lindau, das offiziell Lindau Nobel Laureate Meeting heißt, über seine Forschung spricht. Man kann dort aber auch Carlo Rubbia treffen, der seine Lindau-Eintrittskarte 1984 für seinen Beitrag zur Entdeckung der W- und Z-Bosonen bekam. Oder die Theoretiker Martinus Veltman und Gerardus 't Hooft, Nobelpreis 1999.

Die US-Physikerin Vera Rubin stellte derweil fest, dass die Beobachtung bei fernen Galaxien nicht zur Theorie passt: Gäbe es nur die sichtbare Masse, müsste ihre schnelle Rotation Galaxien auseinandertreiben. Weil das nicht geschieht, muss neben der normalen Materie noch eine andere Form von Materie existieren: die rätselhafte Dunkle Materie. Von ihr ist nur die Schwerkraft spürbar; woraus sie besteht, ist bis heute völlig offen und eine der spannendsten Forschungsfragen überhaupt.

Erst zwei Frauen haben jemals einen Physik-Nobelpreis bekommen

Vera Rubin wurde schon oft als Kandidatin für einen Nobelpreis gehandelt, hat ihn aber nie erhalten. Andernfalls wäre unter den 29 Nobelpreisträgern in diesem Physik-Schwerpunktjahr in Lindau vielleicht nicht nur eine einzige Frau, Ada Yonath, und diese ist Chemikerin. Erst zwei Frauen haben jemals einen Physik-Nobelpreis bekommen: Marie Curie und Maria Goeppert-Mayer, beide sind seit vielen Jahren tot. Das hat indes nichts damit zu tun, dass Rubin den Preis absolut verdient hätte.

Wie sich die Tagung entwickelt hat in Bildern: Drei Männern ist sie zu verdanken (v. l.): Franz Karl Hein, Lennart Graf Bernadotte und Gustav Parade.

Zur zweiten Mediziner-Tagung 1954 kamen Koryphäen (v. l.): Lennart Graf Bernadotte, Albert Schweitzer, Werner Heisenberg, George Whipple und Richard Kuhn.

Der Friedensnobelpreisträger und damalige Bundeskanzler Willy Brandt (5. v. l.) war 1972 zu Gast und posierte mit André Cournand, Hans Krebs, Severo Ochoa, Feodor Lynen, Minister Philipp Held, Edward Tatum, Bürgermeister Josef Steurer, Ragnar Granit und John Eccles.

Die Chemikerin Dorothy Hodgkin findet 1986 zahlreiche Zuhörer.

Gräfin Bernadotte 1994 mit Preisträgern des Wettbewerbs "Jugend forscht" ...

... und bei der Tanzeröffnung zusammen mit Lennart Graf Bernadotte 1988.

Zu dieser Zeit wurde die Finanzierung der Tagung schwieriger. Für den Verbleib in Lindau setzte sich Bundespräsident Roman Herzog ein (mit Alexandra von Berlichingen).

Dank Roger Tsien gibt es seit 2011 Master Classes.

Schon am Montagmorgen sorgt Nobelpreisträger Bill Phillips (l.) heuer für gute Stimmung.

Die Fahrt zur Insel Mainau nutzen im Vorjahr junge Wissenschaftler zum Austausch mit Elizabeth Blackburn.

Bettina Gräfin Bernadotte spricht mit Studentinnen.

Nobelpreisträger Edmond Fischer 2014 mit Forschungsministerin Johanna Wanka.

Brian Schmidt initiierte 2015 die Mainauer Erklärung zum Klimawandel.

Für die Finanzierung sorgt der Stiftungsvorstand (v. l.) Thomas Ellerbeck, Reinhard Pöllath, Jürgen Kluge, Bettina Gräfin Bernadotte, Nikolaus Turner.

In den Achtzigerjahren war der rasante Lauf der Physik plötzlich vorbei. Viele Theoretiker setzten ihre Hoffnungen in die Stringtheorie. Sie sollte endlich die ersehnte Weltformel bringen, die Quantenphysik mit der Theorie der Schwerkraft vereinen. Sie beschreibt die Welt als ein Konzert winziger, schwingender Saiten. Mathematisch hat sie viele Erfolge gehabt, aber die Hoffnungen der Anfangsjahre hat sie bisher nicht erfüllt. Erst ab Mitte der Neunziger ging es wieder schneller voran: Zwei noch fehlende Teilchen des Standardmodells wurden entdeckt, und 1998 brachte gleich zwei bahnbrechende Entdeckungen.

Lichtblitze in einem riesigen Wassertank tief im japanischen Fels zeigten, dass die winzigen Neutrinos wie Doppelagenten zwischen ihren verschiedenen Erscheinungsformen hin- und herwechseln können. Das bedeutet, dass Neutrinos, auch Geisterteilchen genannt, eine Masse haben müssen. Den Nobelpreis für diese Entdeckung bekamen erst im vergangenen Jahr Takaaki Kajita und Arthur McDonalds; beide halten diese Woche in Lindau Vorträge.

Noch folgenreicher war aber eine andere Erkenntnis des Jahres 1998. Bei seiner Untersuchung von bestimmten Sternexplosionen in den Tiefen des Alls stellte der australische Astronom Brian Schmidt, dieses Jahr wieder in Lindau, zu seiner großen Überraschung fest, dass sich das Universum immer schneller und schneller ausdehnt. Kosmologen vermuten, dass das an einer "Dunklen Energie" liegt, einer mysteriösen Anti-Schwerkraft, die das Weltall dominiert und den Raum auseinandertreibt. "Zuerst kam es uns verrückt vor", sagte Schmidt später. Aber ein anderes Team in den USA kam parallel zum gleichen Ergebnis, und Brian Schmidt erhielt 2011 zusammen mit zwei Kollegen seinen Nobelpreis.

Aber dann wieder: Stop-and-go. Anfang des neuen Jahrtausends fehlte den Teilchenphysikern nur noch das Higgs-Teilchen, an dessen Existenz kaum noch jemand zweifelte. Und in der Kosmologie war man sich weitgehend einig, dass das Universum von Dunkler Materie und Dunkler Energie bestimmt wird. Im Laufe der Jahre präzisierten das eindrucksvoll die Satelliten WMAP und Planck, die den kosmischen Mikrowellen-Hintergrund vermaßen - eine Art Nachhall des Urknalls. Einen Nobelpreis gab es dafür nicht mehr, den hatte schon 2006 unter anderem der Lindau-Gast George Smoot für seine weniger genaue, aber frühere Vermessung der Hintergrundstrahlung erhalten. Aber worum es sich bei diesen beiden kosmischen Zutaten handelt - Fehlanzeige.

Auch deshalb fieberten Theoretiker jahrelang auf den Start des Teilchenbeschleunigers LHC am Cern bei Genf hin. In dem ringförmigen Tunnel sollten mit nie zuvor erreichter Energie Teilchen aufeinandergejagt, die dabei entstehenden Bruchstücke von haushohen Detektoren aufgezeichnet werden. Von dem Experiment erhoffte man sich endlich Antworten: woraus besteht Dunkle Materie? Ist an der Stringtheorie etwas dran; gibt es vielleicht die bizarre Supersymmetrie, auf der sie aufbaut? Wie bekommt man die Quantenphysik mit der Schwerkraft unter einen Hut? Statt des erhofften Auftriebs folgte 2008 der Schock: Auffahrunfall. Kurz nach dem Start gab es wegen eines Konstruktionsfehlers einen Kurzschluss an dem milliardenteuren Beschleuniger, er musste generalüberholt werden und konnte erst 2010 und vorerst nur mit stark reduzierter Energie starten.

Eine Vielleicht-oder-Vielleicht-auch-nicht-Messung

Aber das reichte, um 2012 unter weltweiter Aufregung endlich das letzte Puzzleteil des Standardmodells zu finden, das Higgs-Teilchen. Vielleicht hat damit auch eine neue Serie der Erfolge begonnen. Anfang vergangenen Jahres jedenfalls wurden erstmals Gravitationswellen bestätigt, hundert Jahre nach der theoretischen Vorhersage. Solche Dehnungen und Stauchungen der Raumzeit entstehen bei gigantischen Kollisionen in der Tiefe des Alls. Das sei der Start einer neuen Phase der Gravitationswellen-Astronomie, jubelten Wissenschaftler; und tatsächlich konnten sie in diesem Monat stolz ein zweites Signal präsentieren. Ein Nobelpreis für diese Entdeckungen steht noch aus.

Und der LHC ist natürlich auch noch da, seit 2015 endlich mit der geplanten Energie unterwegs. Kurz vor der vergangenen Winterpause gab es einige Aufregung um eine Vielleicht-oder-Vielleicht-auch-nicht-Messung, eigentlich kaum mehr als eine Beule in den Messkurven, aber wer weiß? Es könnte ein neues Teilchen sein. Seit mehr als 40 Jahren wäre es das erste, das nicht theoretisch vorhergesagt wurde. Damit wäre es eine viel größere Sensation als das Higgs oder die Gravitationswellen, denn es würde den Weg in die Zukunft weisen. Wann und wo auch immer so ein Teilchen gefunden wird: Der Nobelpreis wäre seinen Entdeckern garantiert.

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Quelle:
SZ vom 30.06.2016
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