Süddeutsche Zeitung

Artenvielfalt:Der mit dem Wolf lebt

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Fast hundert Jahre lang war Deutschland wolffrei. Die Raubtiere galten als Feind des Menschen. Heute stehen Wölfe in Europa unter strengem Artenschutz. In der Lausitz hat man sich an die Tiere gewöhnt - und hofft auf neue Einnahmequellen.

Inga Rahmsdorf

Frank Neumann lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. Weder von den Baggern, die sein Haus niederwalzen werden, noch von einem Rudel Wölfe. Breitbeinig, in Gummistiefeln und mit Hut steht der Schäfer auf einer Wiese in der Lausitz, am östlichsten Rand Deutschlands. Das Gras glänzt noch feucht in der Morgensonne, hinter einem Zaun grasen 300 Schafe, dazwischen laufen Hunde umher, rundherum erstreckt sich dichter Wald. In zwei Jahren wird jeder Baum und jedes Haus in dieser Region verschwunden sein. Eine neue Zeche für Braunkohle ist geplant. Neumann hat sich mit dem Tagebau abgefunden, ebenso wie er sich mit dem Rudel Wölfe arrangiert hat, das ausgerechnet in der Region lebt, in der er Schafe hält.

Einst war die Gegend hier in Sachsen die rauchende Lunge der DDR. Unter der Erdoberfläche verbergen sich große Braunkohlevorkommen, die auch nach der Wende weiter abgebaut wurden. Schließt eine Zeche, ziehen die Bagger weiter und die Natur erobert sich die ehemaligen Tagebaugebiete zurück. So sind in der Lausitz große, unbesiedelte Flächen entstanden - und in denen haben sich vor 13 Jahren neue Bewohner angesiedelt: Wölfe.

Als 1998 zum ersten Mal einige von Neumanns Schafen mit einem Kehlbiss tot auf der Weide lagen, wusste niemand, wie man mit den neuen Mitbewohnern umgehen sollte. "Keiner wollte zugeben, dass es Wölfe waren", sagt Neumann. Vier Jahre lang blieb es ruhig. Dann kamen die Wölfe wieder und rissen 33 seiner Tiere. Der Schäfer bekam den Schaden vom Land Sachsen erstattet. Seine Tiere zäunte er ein. Als ein Wolf unter dem Zaun durchkroch, hat Neumann Drähte gespannt und sie unter Strom gesetzt. Als ein Wolf darüber sprang, hat Neumann den Zaun erhöht und sich einen Herdenschutzhund gekauft. Als vier Wolfsgeschwister kamen und ein Hund alleine sie nicht in die Flucht schlagen konnte, hat Neumann sich zwei weitere Hunde gekauft. Seitdem haben die Wölfe seine Herde in Ruhe gelassen.

Ein natürlicher Freund des Wolfes sei der Schäfer nicht, sagt Neumann. Trotzdem versteht der 62-Jährige die Aufregung nicht, die oft entsteht, wenn ein Wolf auftaucht. "Wenn's klappt mit dem Wolf, dann stört er mich nicht", sagt er.

Fast hundert Jahre lang war Deutschland wolffrei. Der letzte Wolf soll 1903 nahe Hoyerswerda erschossen worden sein. Die Raubtiere galten als Feind des Menschen und seiner Tiere. Im 20. Jahrhundert wanderte immer mal wieder ein Wolf in Deutschland ein, doch keiner überlebte lange. In der DDR galten sie bis zur Wende als jagdbares Wild. Heute stehen Wölfe in Europa unter strengem Artenschutz, ihre Jagd ist verboten.

Ein paar Kilometer von Neumanns Schafherde entfernt läuft Markus Bathen an einem Waldrand entlang, sein Blick ist auf den Boden gerichtet. In der Ferne steigt Rauch aus den Schornsteinen des Kohlekraftwerks Schwarze Pumpe. Bathen bleibt abrupt stehen, beugt sich vor und blickt zufrieden auf die Erde. Er hat einen Haufen Kot entdeckt. Vorsichtig nimmt er die schwarze Masse mit einem Frischhaltebeutel hoch und begutachtet sie. Bathen ist Experte für Wölfe beim Naturschutzbund Nabu. Da der Wolf sich nur selten zeigt, ist Bathen vor allem Experte im Lesen seiner Spuren. Und die bestehen vor allem aus Pfotenabdrücken und aus Losungen, wie der Kot des Wildes in der Jägersprache heißt.

Auch Laien erkennen an dem Kothaufen, dass hier Wildschwein verspeist wurde - und zwar mit Haut und Haaren. Wie Klebstoff hält die schwarze Masse die Wildschweinhaare zusammen. Wenn der Wolf Zeit hat, verschlingt er seine Beute vollständig und lässt nichts zurück. Haare, Klauen und Knochen sind unverdaulich und werden wieder ausgeschieden. Davon profitieren Forscher.

Um die Lebensweise der Tiere zu verstehen, führt Bathen Protokoll. Der 39-Jährige notiert Kothaufen mit Datum, Fundort, Zustand und schickt sie ein. Die Wildschweinhaare im Kot sind zwar eindeutig, doch nur eine Gen-Analyse kann einwandfrei bestätigen, dass es tatsächlich ein Wolf war, der seine Exkremente hier hinterlassen hat. Dank der DNS-Tests können Experten die Tiere wiedererkennen. Als 2006 am Starnberger See ein Wolf überfahren wurde, konnte man rekonstruieren, dass er aus Italien eingewandert war. Den Wölfen in der Lausitz hat man ihre osteuropäische Herkunft nachgewiesen. Im Nachbarland Polen leben etwa 600 bis 700 Wölfe.

In der Lausitz beobachteten Förster 1998 erstmals zwei Wölfe auf einem Truppenübungsplatz. Zwei Jahre später bekamen die beiden Welpen. Damit war der Wolf wieder heimisch in Deutschland. Heute leben in Sachsen und Brandenburg sechs Rudel und vier Wolfspaare. Auch in Sachsen-Anhalt gibt es ein Wolfspaar, in Mecklenburg einige Single-Wölfe. In Bayern tauchte 2009 ein Wolf auf, von dem es aber seit Monaten kein Lebenszeichen gibt. Insgesamt leben bundesweit etwa 33 erwachsene Wölfe. Nicht jeder Wolf, der angeblich gesehen wurde, war tatsächlich einer. In der Lüneburger Heide diskutierte man drei Wochen lang aufgeregt, bis sich herausstellte, dass es sich um einen Husky handelte.

"Wir gehen davon aus, dass der Wolf sich in ganz Deutschland wieder verbreiten wird", sagt Bathen, "wenn wir Menschen ihn lassen." Geeignete Gebiete gebe es bundesweit. In Europa gibt es nur noch vier Länder, in denen keine Wölfe leben. Die Tiere ziehen sich an dünn besiedelte Orte zurück, doch Wildnis brauchen sie nicht. Auch der Lärm der Panzer auf dem militärischen Übungsgelände in der Lausitz scheint sie nicht zu stören.

Im Senckenberg Naturkundemuseum in Görlitz wäscht, trocknet und analysiert Carina Wagner den Kot, den Bathen ihr schickt. So findet die Biologin heraus, was der sächsische Wolf verspeist. Über 3000 Kothaufen haben Wagner und ihre Kollegen in den vergangenen zehn Jahren ausgewertet. Ergebnis: Der sächsische Wolf frisst bevorzugt Rehe. Ein ausgewachsener Lausitzer Wolf verschlingt etwa 85 Huftiere im Jahr, die Hälfte Rehe, ein Viertel Rothirsche und ein Sechstel sind Wildschweine. Hasen machen vier Prozent seiner Nahrung aus, das wildlebende Muffelschaf ein und Haustiere ein halbes Prozent.

Für Menschen interessiert sich der Wolf trotz aller Gruselgeschichten nicht. In den vergangenen 50 Jahren wurden in Europa nur neun Angriffe auf Menschen registriert, fünf davon waren Tollwutfälle. In vier Fällen haben Menschen den Wolf angefüttert. In der Lausitz hat sich ein Wolf noch nie aggressiv gegenüber Menschen verhalten. "Man braucht keine Angst vor dem Wolf zu haben", sagt Bathen. "Er ist weder blutrünstig noch angriffslustig." Fremd ist er dem Menschen eigentlich auch nicht. Begann dieser doch einst, Wölfe als Haustiere zu halten. Selbst der Dackel ist genetisch immer noch zum Teil ein Wolf.

Es mag an seinem Geheul liegen, dass den Wolf ein unheimlicher Ruf begleitet. Dass die Tiere den Mond anheulen, ist allerdings ein Mythos - wie der, dass sie erbitterte Kämpfe in den Rudeln führen. Wölfe leben eher in konservativen Familienstrukturen: monogam und in der Kleinfamilie. Zusammen mit den Jungtieren besteht ein Rudel aus acht bis zehn Wölfen, dessen Revier in der Lausitz jeweils 310 Quadratkilometer ausmacht, so viel wie das Münchner Stadtgebiet.

Sobald die jungen Tiere geschlechtsreif sind, verlassen sie ihre Eltern und suchen Partner und eigenes Revier. Mitunter ziehen sie dafür Tausende Kilometer weit und heulen nächtelang, um den Rüden oder die Fähe fürs Leben zu finden.

Nicht nur bei der Partnersuche heulen Wölfe, sondern auch, wenn sie sich zur Jagd sammeln oder ihr Territorium verteidigen. Wölfe sollen sogar auf Sirenen antworten - und auf Stephan Kaasche. Der 35-Jährige kniet sich auf den Sandboden und führt vor, wie der Wolf sich bewegt, im geschnürten Trab. Die Hinterpfote setzt er genau dorthin wo die Vorderpfote war. Ab und an geht Kaasche in den Wald und heult. Wenn er die Tiere schon selten zu sehen bekommt, will er sie wenigstens hören, sagt Kaasche, der Touristen und Schulklassen auf die Spuren der Wölfe durch die Lausitz führt.

Wenn Klaus-Peter Schulze über den Wolf spricht, klingt er feierlich. "Hier wird Geschichte geschrieben", sagt der Bürgermeister der Brandenburger Kleinstadt Spremberg. Während mancherorts Bewohner warnen, dass Touristen wegbleiben, wenn der Wolf kommt, wirbt die Lausitz mit dem Raubtier. Wolfswanderwege und Lehrpfade werden aufgebaut und Schnaps verkauft, der Wolfsgeheul heißt. "Es gibt hier keine Anti-Wolf-Stimmung", sagt Schulze. Er habe schon einen Touristen getroffen, der nur wegen des Wolfes nach Spremberg gekommen sei. "Ich kann nur sagen: Willkommen, Wolf", sagt der Bürgermeister.

Schäfer Neumann zieht jetzt selbst Herdenschutzhunde groß und verkauft sie. Meist reicht schon ihr Bellen, um die Wölfe in die Flucht zu schlagen. Neumann hat beobachtet, dass sich auch das Wild an den Zaun legt, um vom Schutz der Hunde zu profitieren. Wölfe nehmen sich meist die Nahrung, die sie am leichtesten bekommen: kranke, schwache und alte Tiere. Kämpferischen Auseinandersetzungen gehen sie aus dem Weg.

Bevor Neumann in sein Auto steigt, macht er noch eine ausholende Bewegung: "Kommt alles weg hier", sagt er. 2013 beginnt die Kohleförderung. Bis dahin wird er mit seiner Frau und seiner Herde umgezogen sein. "2080 ist Anbaden", sagt Neumann. Dann werden die Gruben geflutet und es wird neue unbesiedelte Gebiete geben, in denen der Wolf sich wohlfühlt.

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Quelle:
SZ vom 07.07.2011
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