Süddeutsche Zeitung

Gesichtserkennung:Angst vor der Totalüberwachung

Lesezeit: 5 Min.

Von Jannis Brühl, Simon Hurtz und Nadia Pantel

Alicem wird alles anvertraut. Die Steuererklärung machen, sich ummelden, ein neues Nummernschild fürs Auto beantragen - in Frankreich soll das bald mit einer einzigen Handy-App geschehen. Alicem heißt das vom Innenministerium in Auftrag gegebene Programm, derzeit testen es einige Tausend Menschen. Spätestens ab 2020 sollen die Franzosen über Alicem eine "digitale Identität" bekommen, sagt Innenminister Christophe Castaner. Begeisterung kommt nicht auf. Denn um Alicem zu nutzen, müssen sich Bürger von einer Gesichtserkennungssoftware scannen lassen. Wer die App verwendet, verpflichtet sich, die biometrischen Daten zur Verwendung freizugeben. Frankreich ist das erste EU-Land, das in großem Stil die Gesichter seiner Bürger erfasst.

Das Innenministerium verspricht, dass die Daten gelöscht werden, sobald das Programm die Identität des Nutzers einmal festgestellt hat. Aber Datenschützer bezweifeln, dass die Sicherheitsstandards der Behörden hoch genug sind, um vor Hackerangriffen und Datenklau zu schützen.

Durch hochauflösende Kameras und Algorithmen werden Ähnlichkeiten erkannt

Das Zeitalter der Gesichtserkennung ist da und wirft viele Fragen auf. Die Kombination von hochauflösenden Kameras und selbstlernenden Algorithmen macht Software möglich, die Ähnlichkeit erkennen kann, fast wie ein Mensch, der einem Bekannten begegnet. Die Software hat so viele Fotos von Gesichtern gesehen, dass sie einen Menschen vom anderen unterscheiden kann - glaubt man ihren Verkäufern. Sie dreht, streckt oder staucht das Gesicht auf einem Foto so, dass die Augen in ähnlicher Position liegen. Das macht es vergleichbar mit anderen derart bearbeiteten Bildern. Aus den markanten Punkten - Nase, Mund, Augenstellung, Rand des Kopfes - extrahiert sie die Grundstruktur des Gesichts: das "Template". Ein Algorithmus berechnet dann die Ähnlichkeit zwischen zwei Templates: Treffer oder nicht?

In der Debatte über Gesichtserkennung geraten oft zwei Anwendungen durcheinander: Gesichtsidentifikation und Gesichtsverifikation. Die Gesichtsidentifikation ist echte Überwachungstechnik. Mit Software verstärkte Kameras filmen Menschen, etwa im öffentlichen Raum, und gleichen deren Gesichter mit Datenbanken ab. Das beängstigende Szenario: Das System verfolgt Menschen selbständig durch die Stadt. Das Gesicht wird zur Wanze. Als Rohstoff könnten dabei auch Fotos dienen, wie sie Frankreich nun erfasst.

Das Alicem-System ist allerdings eine Form der Gesichtsverifikation. Die Technik soll sicherstellen, dass die "digitale Identität" nur von Bürgern verwendet wird, zu denen sie gehört. Das Gesicht dient als Zugangskarte. Eine Zugangskarte, die man nicht verlieren kann, selbst wenn man will. Eine ähnliche Technik bietet Apple für das iPhone. Nutzer können es entsperren, indem sie es vor ihr Gesicht halten. Der Unterschied zum französischen System: Apple ist nicht der Staat. Der hat nämlich einen Anreiz, die Gesichter seiner Bürger zentral zu erfassen. Polizei und Geheimdienste freuen sich über solche Datenbanken. Zudem besteht die Angst, dass solche Daten-Pools von Hackern geplündert und Gesichtsbilder missbraucht werden. Sei es, um mit dem Foto des ahnungslosen Betroffenen bessere Algorithmen zu trainieren oder um sein Umfeld in krimineller Absicht zu täuschen und sich etwa Zugang zu sensiblen Bereichen zu verschaffen.

Die Bürgerrechtsorganisation "La Quadrature du Net" hat Klage gegen die Einführung von Alicem eingereicht. Sie spricht von einer "Banalisierung dieser Technologie" durch den Staat. Es sei vorstellbar, dass Gesichtserkennungssoftware auch von der Polizei eingesetzt werden könnte, um zum Beispiel Demonstranten zu überwachen. Es wäre ein starker Eingriff in die Persönlichkeitsrechte: Wer einmal biometrisch erfasst ist, könnte in diesem Szenario sein Leben lang bei politischen Aktivitäten verfolgt werden.

Tatsächlich hat der Bürgermeister von Nizza, Christian Estrosi von den Republikanern, im Februar während des Straßenkarnevals ein Experiment mit Gesichtserkennungssoftware veranlasst. Schilder wiesen Besucher darauf hin, welche Zonen des Karnevals überwacht wurden. Die CNIL, die nationale Kommission für Internet und Freiheitsrechte, beschwerte sich, nicht rechtzeitig informiert worden zu sein. Sie warnt, durch Gesichtserkennungssoftware könne das Recht auf Anonymität im öffentlichen Raum verloren gehen. Auch Alicem sieht die CNIL kritisch. Biometrische Daten - Irismuster, Fingerabdrücke, Gesichtsbilder - gelten in der EU als besonders schützenswert. Sie werden als intimer als etwa der Name eingestuft, auf einer Ebene mit der DNA eines Menschen oder den Geheimnissen seines Sexuallebens.

Trotz aller Beteuerungen, gut auf die Daten aufzupassen, wächst die Furcht vor dem Einsatz der Gesichtsidentifikation. Je besser vernetzt die Datenbanken dahinter sind, in denen die Gesichter von In- und Ausländern, Asylbewerbern, Kriminellen, legal eingereisten wie international gesuchten Menschen gespeichert sind, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass das System die Person auch erkennt. Zumindest, solange es wie geplant funktioniert.

Derzeit ist jedoch eher die Unfähigkeit der Technik das Problem, nicht ihre Perfektion. Bei Menschen, die sich bewegen und nicht frontal auf die Kamera zulaufen, stößt die Erkennung an Grenzen. Das zeigte sich am Streit um den Testlauf für Gesichtsidentifikation am Berliner Bahnhof Südkreuz, einem der aufsehenerregendsten Überwachungsprojekte der vergangenen Jahre in Deutschland. In dem Pilotprojekt filmten drei Kameras Teile des Bahnhofs. Software suchte bekannte Gesichter im Menschenstrom - nicht Terroristen, sondern Freiwillige, die mit Amazon-Gutscheinen belohnt wurden.

Der Test sollte klären helfen, ob Gesichtserkennung bereit für den flächendeckenden Einsatz ist. Laut dem Bundesinnenminister ist sie das: Die Systeme hätten sich "in beeindruckender Weise bewährt", sagte Horst Seehofer damals. Nun sei "eine breite Einführung möglich". Der Deutsche Anwaltsverein, Oppositionspolitiker und Datenschützer sehen das anders. Der Bundesdatenschutzbeauftragte Ulrich Kelber bezeichnet die Gesichtserkennung als "eingriffsintensive Maßnahme". Er sieht einen "starken Grundrechtseingriff", für den es keine gesetzliche Grundlage gebe.

Die Zahlen, die Seehofer stolz präsentierte, lauten 80 Prozent und 0,1 Prozent: Die Software erkannte vier von fünf gesuchten Personen und schlug bei einem von 1000 Gesichtern irrtümlich an. Die Hacker vom Chaos-Computer-Club sprachen von einer "absichtlich positiv verfälschenden Zahl". Doch selbst wenn man der Statistik traut, taugt die Gesichtserkennung nicht viel. Denn was nach einem zuverlässigen System klingt, ist tatsächlich ungeeignet, um es in großem Stil einzusetzen.

Täglich reisen Millionen mit der Deutschen Bahn. Dem stehen einige Hundert gesuchte Straftäter gegenüber. Die Software würde zwar 80 Prozent der Verbrecher identifizieren, aber Tausende Fehlalarme am Tag auslösen. Allein am Südkreuz müsste die Polizei jedes Jahr 60 000 Unschuldige händisch aussortieren, die eine vermeintlich intelligente Software zu Verbrechern erklärt hat. "0,1 Prozent Falschtrefferrate ist definitiv zu viel", sagte der Nürnberger Informatik-Professor Florian Gallwitz. Dass ihr Gesicht falschen Alarm auslöst, daran könnten sich Bürger im kommenden Jahrzehnt gewöhnen müssen.

Seit Juni läuft am Südkreuz ein weiterer Test mit Videokameras. Diesmal sollen keine Gesichter, sondern verdächtige Verhaltensweisen erkannt werden. "Intelligente Videoanalyse-Technik", wie es die Bundespolizei nennt, soll Gefahrensituationen selbständig identifizieren: kollabierte Menschen, herrenlose Koffer und "schnelle Bewegungen von Personengruppen", was auf Gewalt hindeuten könnte. Monatelang lagen und liefen Statisten durch den Bahnhof, drapierten Gepäckstücke und sollten Szenen nachspielen, um die Software herauszufordern. Jetzt ist der Versuch abgeschlossen, die Bundespolizei wertet die Daten aus. Im Juli berichtete die taz, die Tests seien laut der Deutschen Bahn noch nicht ganz nach Plan verlaufen. Man sei noch weit davon entfernt, Situationen nach einem exakten Drehbuch nachzustellen.

Laut Gegnern der Technik befinden wir uns an einem entscheidenden Punkt: Die Gesichtserkennung stehe für einen Paradigmenwechsel des Überwachungsstaates, sie sei ein nie da gewesenes Eindringen in die Privatsphäre, die verhindert werden müsse. Im Gange ist ein internationaler Aufstand gegen den Bau eines Systems umfassender Gesichtsdatenbanken und der Kameras, die Gesichter erfassen und mit Datenbanken abgleichen. Am Donnerstag erklärte die Bürgerrechtsorganisation ACLU, sie habe die US-Regierung verklagt, Informationen über ihre Geschäfte mit Unternehmen von Software für Gesichtserkennung herauszugeben. Dabei geht es auch um die Frage, ob der Staat solche Software ausreichend analysiert und versteht, um den Datenschutz garantieren zu können.

Frankreich beschwichtigt Kritiker an Alicem, niemand werde verpflichtet, eine digitale Identität anzulegen. Man könne weiter aufs Amt gehen, eine Nummer ziehen und warten. Allerdings könnte dadurch eine Verwaltung der zwei Geschwindigkeiten entstehen. Schnelle Prozesse für die, die ihre biometrischen Daten erfassen lassen. Und deutlich langsamere Verfahren für die 13 Millionen Franzosen, die das Internet kaum oder gar nicht nutzen.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen für 0,99 € zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4664049
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 02.11.2019
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.