Süddeutsche Zeitung

Windkraft:Wie die Energiewende der alten Stahl-Welt nützt

Lesezeit: 6 min

Klimaschutz und Schwerindustrie, das klingt nach Feindschaft. Doch weil Windräder schwere Pfähle brauchen und Wälzlager aus Stahl, treffen sich die zwei Welten.

Von Benedikt Müller-Arnold, Lippstadt

Wenn man so will, ist Winfried Schulte bei Thyssenkrupp der Herr der Ringe. Wenn es Nacht wird in Westfalen und die Straßen frei sind, dann fahren schwere Lastwagen metergroße Ringe von Dortmund aus gen Osten. In der Stadt im Ruhrgebiet hat Thyssenkrupp die Ringe aus warmem Stahl gewalzt. Gut 70 Kilometer weiter, in Lippstadt, baut Schultes Firma Rothe Erde sie mit Kugeln oder Rollen zu Wälzlagern zusammen. Allerdings nicht zu irgendwelchen Kugellagern, wie sie in jedem Rollschuh stecken. Nein, hier geht es um Lager mit einigen Metern Durchmesser.

"Unsere Großwälzlager sorgen dafür, dass sich Dinge sicher drehen und bewegen können", sagt Schulte, Rothe Erde gilt als Weltmarktführer in dem Segment. Die Lager stecken etwa in Tunnelbohrmaschinen, die sich durch Berge fressen. Sie stecken in großen Teleskopen, die sich genau in diese oder jene Richtung drehen. Und: In jedem Windrad sind gleich mehrere Lager verbaut. Damit sich die Mühle sicher dreht. Und damit sich alle drei Rotorblätter je nach Wind verstellen können.

"Die Windkraft ist der am stärksten wachsende Markt, den wir beliefern", sagt der 57-Jährige. Praktisch alle großen Staaten haben Klimaziele, müssen unabhängiger von Kohle, Öl und Erdgas werden. "Deshalb werden Windkraftanlagen in den nächsten Jahren deutlich an Bedeutung gewinnen", sagt der Chef der Thyssenkrupp-Tochter. "Wir haben in diesem Jahr neue Fertigungslinien gebaut, damit wir den zukünftigen Bedarf decken können."

Ausgerechnet, möchte man fast sagen. Die Schwerindustrie und der Klimaschutz gelten landläufig ja eher als ziemlich beste Feinde. Denn Stahlwerke, Gießereien oder Chemiefabriken verursachen viele Treibhausgas-Emissionen. Zwar haben Konzerne wie Thyssenkrupp Ziele und Pläne, wann und wie sie klimaneutral werden wollen: mit neuen Technologien und viel mehr erneuerbarer Energie. Und doch warnt die Industrie davor, dass zu einseitig ehrgeizige Klimaziele dazu führen könnten, dass sich die Produktion - samt Emissionen - in Erdteile mit laxeren Regeln verlagern könnte. Obendrein grassiert die Sorge, dass Strom in einer Übergangszeit sehr teuer werden könnte, solange nicht genug erneuerbare Energien und Speicher am Netz sind.

Dabei droht fast unterzugehen, dass die alte Stahl-Welt durchaus auch von der Energiewende profitiert: wenn Hersteller beispielsweise riesige Fundamente für Windräder auf dem Meer liefern. Oder eben Wälzlager für immer größere Windräder.

Die Fabrik von Rothe Erde ist doppelt so groß wie noch vor 20 Jahren

"Unsere Komponenten kommen seit 45 Jahren in der Windindustrie zum Einsatz", sagt Rothe-Erde-Chef Schulte, die Thyssenkrupp-Tochter beliefert viele große Hersteller von Windturbinen. Rund um die Fabrik in Lippstadt hat Rothe Erde fleißig angebaut und zugekauft: Das Werksgelände ist doppelt so groß wie noch vor 20 Jahren. Das Unternehmen mit gut 6500 Beschäftigten fertigt Wälzlager aber auch im europäischen Ausland, in China und Amerika.

"In den USA forciert Präsident Biden den Ausbau der Windkraft", sagt Schulte, "der Markt gewinnt an Fahrt." In China ist ein Förderprogramm für Windparks auf hoher See zwar in diesem Jahr ausgelaufen, deshalb droht dort eine Auftragsdelle. "Aber auch für die Zukunft gibt es hohe Ausbauziele", sagt Schulte, der schon seit 1992 für Rothe Erde arbeitet. Und: "Auch in China sehen wir eine Entwicklung hin zu größeren Turbinen."

Dass Windräder weltweit immer größer und leistungsfähiger werden, das spüren sie auch bei den Dillinger Hüttenwerken, einem mehr als 300 Jahre alten Unternehmen. Die Saarländer walzen dicke Brammen aus Stahl zu großen Blechen, die etwa in der Bauindustrie zum Einsatz kommen. Hierbei ist Dillinger durchaus auf Rekorde aus: Bis zu 42 Tonnen wiegen einzelne Bleche, die das Walzwerk an der Saar verlassen und oft per Schiff abtransportiert werden.

Derlei Riesenbleche landen "zu einem großen Teil" in Fundamenten, die Windräder vor den Küsten am Meeresboden verankern, teilt Dillinger mit. Demnach stehen bislang etwa 80 Windparks in Europa auf Spezialblechen des saarländischen Herstellers. Und der Markt soll weiterwachsen.

Die Ampel-Parteien wollen die Windkraft auf See deutlich ausbauen

Allein vor der deutschen Nord- und Ostseeküste sind bislang Windparks mit einer Kapazität von knapp acht Gigawatt entstanden. Und die neue Bundesregierung will deutlich mehr Flächen für die sogenannte Offshore-Windkraft bereitstellen: Bis 2030 soll die installierte Leistung auf mindestens 30 Gigawatt steigen, heißt es im Koalitionsvertrag von SPD, Grünen und FDP.

Die tonnenschweren Bleche von Dillinger baut beispielsweise die Tochterfirma Steelwind Nordenham in der Nähe von Bremerhaven zu Dutzenden Metern langen Rohren zusammen. Spezialschiffe transportieren die sogenannten Monopiles denn an die jeweiligen Bestimmungsorte, wo sie in den Meeresboden gerammt werden und die Windräder tragen. Dillinger liefert die großen Bleche aber auch an andere Fundament-Hersteller.

Allerdings stoßen die Entwickler von Windparks mehr und mehr in tiefere Meeresabschnitte vor. Die Pfähle bekommen als Träger schon Konkurrenz, etwa von schwimmenden Fundamenten, die gar keine Verankerung im Boden mehr brauchen.

Dillinger rüstet nun auf: Im Herbst hat die Firma entschieden, dass sie weitere 56 Millionen Euro in den Windmarkt investieren wird. Beispielsweise will sie jenen Ofen im Saarland modernisieren, der die Stahlbrammen erwärmt; die Kapazität des Walzwerks soll steigen. So trage Dillinger dazu bei, dass Europa seine Klimaziele erreichen könne, sagt Vorstandschef Karl-Ulrich Köhler. "Diesen Vorsprung gilt es für eine erfolgreiche Energiewende zu bewahren." Auch die Tochter Steelwind Nordenham mit 275 Beschäftigten soll künftig mehr größere und schwerere Fundamente bauen und lagern können.

Platzprobleme: Thyssenkrupp testet die immer größeren Lager auf der grünen Wiese

Bei Rothe Erde haben sie sich derweil ein Original-Windrad zu Testzwecken an den Rand eines Gewerbegebiets der westfälischen Kleinstadt Erwitte gestellt. Allerdings ist die Anlage alles andere als komplett: Den Turm haben sie praktisch weggelassen; stattdessen steht hier die Nabe, jenes Herzstück eines jeden Windrads, das normalerweise Dutzende Meter in der Höhe prangt, und zeigt mit dem Kopf nach oben. Daran hängt hier nur eines - statt normalerweise dreier - Rotorblätter.

"Die Windkraftanlagen sind in den vergangenen Jahren so groß geworden, dass wir schon seit 2014 einen Prüfstand außerhalb des Werksgeländes brauchen", sagt Jörg Rollmann, Leiter der Forschung und Entwicklung von Rothe Erde. Mithilfe großer Klammern simulieren die Ingenieure hier den Windzug oder Druck, dem das Rotorblatt und das daran verbaute Wälzlager in Dutzenden Metern Höhe ausgesetzt sind. "Hier können wir innerhalb von 24 Stunden die Realität einiger Monate nachbilden", sagt Rollmann.

Das hilft dem Unternehmen, wenn es etwa mit neuen Materialien oder Bauformen, neuen Kugeln oder Fetten für seine Wälzlager experimentiert. Schließlich wollen die Abnehmer wissen, dass Windrad-Komponenten viele Jahre lang sicher funktionieren. Ein Computer mag ja viel berechnen können, aber hier am Teststand erfolgt sozusagen der Realitätscheck.

Nun sollte man wissen, dass Thyssenkrupp in einer schwierigen Lage steckt. Der Konzern hat sich vor gut einem Jahrzehnt mit neuen Stahlwerken in Brasilien und den USA verhoben. Vor anderthalb Jahren musste Thyssenkrupp das profitable Aufzugsgeschäft verkaufen, um eine Überschuldung abzuwenden. Auch von kleineren Verlustbringern haben sich die Essener seither getrennt. Nun erwägen sie, ihre krisenanfälligen Stahlwerke an Rhein und Ruhr in eine selbständige Firma auszulagern.

Wind-Komponenten zählen zu den profitabelsten Geschäften des ganzen Konzerns

Die Wälzlager von Rothe Erde allerdings zählen - neben dem Werkstoffhandel, dem Schmiedegeschäft und der Autozuliefersparte - zu jenem Kern, den Thyssenkrupp nach eigenem Bekunden behalten und entwickeln will. Kein Wunder, sind die sogenannten Industriekomponenten doch das Segment mit der höchsten Gewinnmarge des gesamten Konzerns. Der Umsatz mit Großwälzlagern soll künftig im Schnitt um fünf Prozent pro Jahr steigen, so hat es Thyssenkrupp kürzlich in Aussicht gestellt.

Allerdings ist das Geschäft mit der Windkraft auch ziemlich umkämpft. Anlagenbauer wetteifern weltweit darum, Windräder zu bauen, die im Betrieb möglichst günstig Strom erzeugen. Die Konkurrenz ist groß, beispielsweise hat das einstige Vorzeigeunternehmen Enercon aus Ostfriesland Marktanteile eingebüßt und mehrmals Arbeitsplätze abgebaut. Enercon war traditionell stark auf den Heimatmarkt Deutschland ausgerichtet. Doch ist der Ausbau vor allem an Land ins Stocken geraten: Vielerorts sorgen sich Anwohner um den Lärm, das Landschaftsbild oder den Vogelschutz; Genehmigungsverfahren ziehen sich hin. Und überdies geht der Trend zu immer höheren und größeren Windrädern, die entsprechend auch größere Lager brauchen.

So hat Rothe Erde im Sommer ein vergleichsweise kleines Werk in Brandenburg geschlossen, das vergleichsweise kleine Großwälzlager produzierte. Zugleich investiert die Firma in andere Werke, vor allem in Europa und Asien, um sich für größere Komponenten zu rüsten.

Am Prüfstand in Erwitte haben die Ingenieure derzeit die Nabe und das Rotorblatt eines Windrads mit einer Nennleistung von acht Megawatt montiert. Das Rotorlager, das sie hier auf Herz und Nieren prüfen, hat einen Durchmesser von fast vier Metern. Doch bald dürften die vielen Ringe, die Rothe Erde für die Windrad-Lager braucht, noch größer werden. "Langfristig könnten wir hier eine größere Nabe aufsetzen", sagt Forschungsleiter Rollmann, "für Windkraftanlagen mit einer Kapazität von elf oder zwölf Megawatt."

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