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Wirtschaftspolitik:Die Regierung muss die Wirtschaftsweisen ernst nehmen oder abschaffen

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Inflation, Corona, Ukraine-Krieg: Noch nie gab es so viel Bedarf an ökonomischem Sachverstand. Doch ausgerechnet jetzt demontiert die Bundesregierung ihr zentrales Beratergremium.

Kommentar von Alexander Hagelüken

Es sind verwirrende Zeiten, in denen auch Politiker guten Rat brauchen. Ob durch die Rückkehr der Inflation, die Pandemie, das Reißen der Lieferketten oder das geopolitische Beben infolge Russlands Überfall auf die Ukraine: Selten wurden binnen kurzer Zeit so viele vermeintliche Gewissheiten über den Haufen geworfen. Da wirkt es unverständlich, dass die Bundesregierung dabei ist, ihr wichtigstes wirtschaftspolitisches Beratergremium zu demontieren.

Der Sachverständigenrat Wirtschaft besteht normalerweise aus fünf Ökonom(inn)en, zu denen seit Kurzem endlich zwei Frauen zählen. Fünf ist eine gute Zahl, um zusammen mit einem Stab fundiert umfangreiche Gutachten zu erarbeiten, damit Politiker sinnvolle von nutzlosen oder schädlichen Ideen wie dem Tankrabatt unterscheiden können. Derzeit aber sind die Wirtschaftsweisen nur zu dritt.

Die Arbeitgeber haben gemäß ihres Vorschlagsrechts bereits vor sechs Wochen den Sozialexperten Martin Werding als Nachfolger von Volker Wieland vorgeschlagen. Werdings Berufung ist eine Formalie. Doch die Bundesregierung versäumt es seit Wochen, die Personalie im Kabinett durchzuwinken.

Das wäre für sich betrachtet noch nicht so schlimm, befänden sich die Wirtschaftsweisen nicht ohnehin in Unterzahl. Der fünfte Posten ist vakant, seit der Vorsitzende Lars Feld ausschied. Also seit über einem Jahr. Wie peinlich, dass die Bundesregierung noch immer keinen Nachfolger für Feld berufen hat. Entweder sie nimmt ihr Gremium endlich ernst - oder sie sollte es abschaffen.

Abschaffen wäre allerdings die schlechtere Variante. Selten türmten sich vor einer Regierung so viele ökonomische Fragen auf. Muss sie die Bürger breit von der Inflation entlasten oder treibt sie damit die Teuerung weiter hoch? Wie viele Schulden darf sie angesichts von Zukunftsaufgaben wie Klimaschutz und Verteidigung machen, ohne gefährlich unsolide zu werden? Wie wird Deutschland rasch unabhängig von russischem Gas, und ohne massenhaft Jobs zu gefährden? Bei all diesen Fragen hilft der Regierung ökonomischer Sachverstand. Um den zu bekommen, bräuchte es genug Sachverständige.

Auch die neue Regierung kriegt es nicht hin, sich auf Nachfolger zu einigen

Die Wurzeln der Weisen-Schrumpfung liegen in der alten Bundesregierung. Die Union wollte Ratschef Lars Feld gerne eine dritte Amtszeit spendieren. Die SPD sperrte sich, weil sie den Freiburger Forscher mit gewissem Recht für einen marktliberalen Dogmatiker hält. Sie wollte lieber jemand vom Typ des DIW-Chefs Marcel Fratzscher, der den internationalen ökonomischen Mainstream repräsentiert, der weder Mindestlöhne noch Schulden so verdammt, wie Feld es tut. So verging das erste halbe Jahr.

Aber, und das sollte niemanden überraschen, seit Ende 2021 amtiert eine neue Regierung. Und auch die kriegt es nicht hin, einen Nachfolger für Feld zu berufen. Nur Feld selber bekam ein neues Amt: Als Chefberater des demonstrativ marktliberalen FDP-Finanzministers Christian Lindner, der über die Berufung der Weisen mitentscheidet. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.

Zwischendrin war zu hören, die FDP verhindere den anerkannten Handels- und Arbeitsexperten Jens Südekum als neuen Weisen. Ansonsten war Schweigen im Koalitions-Walde. Währenddessen türmen sich die Probleme von Inflation bis Gasknappheit weiter auf.

Weil die Regierung ihr Beratergremium ostentativ nicht ernst nimmt, blühen Vorschläge, man könne doch alles ganz anders machen. Etwa die Weisen nach amerikanischem Vorbild viel enger an der Regierung ansiedeln. Das allerdings verträgt sich schwer mit dem Unabhängigkeitswunsch hiesiger Ökonomen - und der deutschen Abneigung gegen Seitenwechsel zwischen Politik, Wirtschaft und Wissenschaft, die in den USA selbstverständlich sind.

Natürlich lässt sich der Sachverständigenrat sinnvoll reformieren. Statt wie bisher einen Gutachten-Ziegelstein pro Jahr, wäre es bereichernd, mehrere Analysen zu aktuellen großen Fragen zu erhalten. Solche Ideen können die Weisen ja beraten, wenn sie mal vollständig sind - endlich. Will die Regierung sich und das Gremium nicht der Lächerlichkeit preisgeben, muss sie jetzt handeln.

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