Süddeutsche Zeitung

Robert Habeck:"Wir haben Innovationskraft verloren"

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Der Grünen-Vorsitzende spricht beim SZ-Wirtschaftsgipfel über die Versäumnisse der Politik, in die deutsche Infrastruktur und die Bildung zu investieren. Bei der Kanzler-Frage weicht Habeck aus.

Von Constanze von Bullion, Berlin

Irgendwann sitzen sie dann da vorn in diesen tiefen Sesseln, einander zugewandt, neugierig, aber auch ein bisschen ratlos: der Ältere, der den Jüngeren für einen quasi jungen Mann hält, für einen mit Zukunft. Und der Jüngere, der sich gar nicht so sicher zu sein scheint, was für eine Zukunft das eigentlich sein soll. "Im Wandel gibt es Unsicherheit", sagt Robert Habeck irgendwann. Das gilt, so wie es klingt, manchmal auch für ihn selbst.

Dienstagabend im Museum für Kommunikation in Berlin, unter Stuckarkaden und bei Bachsaibling mit Birne hat die Hauptstadtgesellschaft sich versammelt. Der SZ-Wirtschaftsgipfel geht in die Zielgerade, zwei Tage lang haben sich Unternehmerinnen, Journalisten und Querdenker aus Politik und Wirtschaft gemeinsam die Köpfe über die Zukunft zerbrochen. Digitalisierung, Brexit, Frauen in Führung, drohende Handelskriege, Klimakrise, Angst vor China, Umbruch in der Autobranche und dann die Verantwortung für nachwachsende Generationen - an Fragen hat es nicht gefehlt. Für Antworten ist beim Dinner am Dienstagabend Robert Habeck zuständig.

Der Grünen-Vorsitzende ist als Redner zur "Nacht der Europäischen Wirtschaft" eingeladen, und er hat noch kein Wort gesagt, da gibt es eine erste Verbeugung. "Hier waren häufig Leute, die sehr wichtig waren, aber einen Teil ihrer Zukunft schon hinter sich hatten", sagt SZ-Chefredakteur Kurt Kister zur Begrüßung. Im Saal, wo es an Hochwohlmögenden nicht fehlt, setzt sich zum ersten Mal Gelächter in Gang. Gerhard Schröder zum Beispiel habe mal am SZ-Wirtschaftsgipfel teilgenommen, fährt Kister fort. "Ich glaube, dass Robert Habeck den größeren Teil seiner Zukunft, vielleicht sogar unserer Zukunft, noch vor sich hat."

Habeck also, Parteivorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen und ein Mann, der sich vor Zuspruch kaum retten kann. Am Dienstagabend in Berlin steht er wie üblich eher unrasiert auf der Bühne, in Jeans, eine Hand in der Hosentasche. "Ich soll hier was sagen", sagt er. "Lauter!", brüllt jemand. Er bitte um Entschuldigung, "dass ich Sie beim Tischgespräch gestört habe". Selbstverständlich stört Habeck gern beim Tischgespräch, und weil er "keine humorische Rede" halten mag, kommt er schnurstracks zum Zustand der Gesellschaft. Zwei widerstreitende Tendenzen gebe es da: die eine die Hoffnung mache, und eine andere, die Anlass zur Sorge gebe. Was Sorgen mache, gewinne an Dynamik. In ganz Europa sei eine "Neusortierung oder Umformatierung des demokratischen Systems" zu beobachten und eine "ernste Bindekrise" der Demokratie. Neue Technologien, neue Kommunikationswege, der Wandel setze Unsicherheit frei, viele Menschen reagierten mit Aggression. Aber wenn man brüllt, so Habeck, "finden keine Gespräche mehr statt".

Nun ist Habeck keiner, dem das Brüllen ganz fremd ist, was einer der Gründe sein mag, warum er sich den leisen, den nicht konfrontativen Tönen verschrieben hat, auch in der Politik. Es lohne sich, für eine gesellschaftliche Neuaufstellung zu arbeiten und Optimismus zu verbreiten, sagt er in Berlin. Gründe gebe es reichlich. Die Europawahl habe nicht zum Durchmarsch der Rechtpopulisten geführt, und in der Gesellschaft habe sich ein breites Bündnis gegen Demokratieverachtung gefunden.

Was folgt, ist ein Habeck'scher Versuch, auf einem Wirtschaftskongress über Wirtschaft zu reden, irgendwie. "Man mag sich nicht vorstellen, was passiert, wenn zu dieser porösen Stimmung noch eine Finanzkrise kommt", sagt der Grünenpolitiker. Die USA hätten sich aus ihrer Führungsrolle verabschiedet, China rücke auf wirtschaftlichem Gebiet vor, Europa setze dem nichts entgegen. "Wir werden eine Situation erleben, wo wir nicht mehr die ökonomische Prosperität dieses Landes werden halten können." Muss nicht so kommen, sagt Habeck. Aber kann so kommen. "Was dann?"

Keiner der europäischen Nachbarn verstehe, warum Deutschland seine ökonomische Kraft "nicht einsetzt für den Zusammenhalt des Kontinents", so der Grünen-Parteivorsitzende weiter. Ein so reiches Land, und dann all die schmutzigen Schultoiletten, die maroden Brücken. "Wir haben Innovationskraft verloren. Wir investieren zu wenig in Bildung und Forschung." Deutschland müsse erheblich mehr Geld ausgeben und - gerade noch innerhalb der Maastricht-Kriterien - mehr Schulden machen, auch um den ökologischen Umbau zu finanzieren. Im Saal ist es jetzt mucksmäuschenstill. Keiner klatscht. "Ich rede nicht einer hemmungslosen Verschuldung das Wort", sagt Habeck. Aber die Schuldenbremse müsse gelockert werden, und eine Summe von 35 Milliarden Euro her, um Stromnetze, Mobilität, Bahnstrecken zeitgemäß zu modernisieren. "Dass Sie mich nicht falsch verstehen. Das sind Umstrukturierungsprozesse der Marktwirtschaft."

Der Applaus bleibt eher höflich, als Habeck zum Ende kommt und umsteigt in einen Sessel, geräumig wie eine Badewanne. Dort wird er mit dem Chefredakteur der Süddeutschen Zeitung, Kurt Kister, den zweiten Teil des Abends im Zwiegespräch verbringen. Es ist der deutlich unterhaltsamere Teil, auch weil Kister nicht tut, was man von ihm erwarten könnte: Habeck jetzt nach Dingen wie der Schuldenbremse zu fragen. "Ich habe Ihnen zugehört und hatte so bisschen den Eindruck, da spricht der Direktor der Bundeszentrale für Versöhnung", sagt Kister. Steine werfen wie bei Joschka Fischer, das sei ja wohl vorbei bei den Grünen.

"Was wollen Sie damit sagen?", fragt Habeck. Er lacht kein bisschen. "Sich heute in eine radikale Minderheitsnische zurückzuziehen, ist ein Luxus, den sich niemand mehr leisten kann." Steineschmeißen, das sei "ja noch blöder als Rumbrüllen". Kister und Habeck, das sind zwei, die sich von Temperament und Humor unähnlicher kaum sein könnten. Es entspinnt sich dann aber doch noch ein interessantes, streckenweise recht persönliches Gespräch. Auch weil Kister, wie er erzählt, von seinem Sohn gefragt worden sei, wer dieser Habeck eigentlich sei.

Auch der SZ-Chefredakteur rätselt da offenbar noch. Petra Kelly, Gerd Bastian, Joschka Fischer, "da war immer klar, wogegen die sind", sagt er. "Wogegen sind Sie?" Gegen Tierquälen, sagt Habeck, und gegen den Thüringer AfD-Politiker Björn Höcke. Dessen Buch und "Deportationsfantasien" seien eine Anleitung zum Faschismus, "wie Hölderlin unter Drogen". Jetzt kommt Bewegung in den Saal, und es gibt ersten Applaus.

Wer sind Ihre wichtigsten drei Menschen?, will Kurt Kister wissen. "Na ja, ich hab vier Söhne", antwortet Robert Habeck. "Politik tötet Familie", sagt Kister. "Ja, das muss man so sagen", räumt Habeck ein. Das betreffe auch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Partei, die bis nachts im Büro säßen. "Das kann einen zerreißen." Politik, doch, ja, "man macht es schon gern", schiebt er noch hinterher. "Die Leute finden es halt doof. Politiker sein, ist bäh." Und die Angst, sich so zu verändern, dass man sich selbst nicht mehr erkennt? Habeck winkt jetzt ab. "Wenn man anfängt, davor Angst zu haben, dann hat man schon verloren."

Den Journalisten Kurt Kister, Jahrgang 1957, und den Politiker Robert Habeck, Jahrgang 1969, trennen mehr als zwölf Lebensjahre. So viel steht fest. Aber im Laufe des Abends scheinen sie sich unmerklich anzunähern, zumindest ein wenig. Klar hätte er sich von den Medien mehr Liebe gewünscht, sagt Habeck irgendwann. Der Grüne werde schon ausreichend geliebt, befindet Kister. "Nach den gängigen Kriterien sind Sie ein junger Mann. Wann werden Sie ein alter weißer Mann?" Nein, den Ausdruck alter weißer Mann finde er nicht so gut, moniert Habeck, "auch politisch spaltend". Und was, will Kister noch wissen, ist das Weibliche an Angela Merkels Politik?

Habeck überlegt jetzt. "Wenn man mit Klischees arbeitet, dann hat Angela Merkel einiges weiblich gemacht", sagt er. Einladende Politik zu machen, zuzuhören, "ich glaube auch, dass sie stärker ein Kabinett der Frauen gefördert hat". Die Grünen und Angela Merkel, das grenzt inzwischen fast an Verehrung. Nur zeigen dürfen sie das eben nicht. Weshalb Habeck sei Merkellob eilig wieder kassiert: "Heute ist sie mir ein bisschen zu erklärend und schweigt zu viel."

Irgendwann dann kommt sie, unausweichlich wie ein Fallbeil. "Können Sie Kanzler?", fragt Kurt Kister. Habeck stöhnt jetzt auf. "Sehen Sie", sagt er. Er unterbricht sich. Setzt noch einmal an. "Meine Partei hat zwei gute Entwicklungsjahre gehabt, weil wir nicht über Personen, über Posten, über den Bruch der Koalition spekuliert haben." Die Frage stelle sich nicht. "Die Frage stellt sich, weil ich sie stelle", entgegnet Kister. Habeck erzählt jetzt, was er immer erzählt. Dass er vertrauensvoll mit Annalena Baerbock zusammenarbeite. Und dann? Ist erst mal Parteitag, "und dann ist Weihnachten", dann Hamburg-Wahl. Es hilft nichts. "Haben Sie manchmal das Gefühl, der Habeck könnte doch Kanzler werden?" Nein, sagt Habeck. "Ich denke darüber nach, wie ich am Freitag eine gute Rede halten soll."

Was soll er bloß seinem Sohn sagen, will Kurt Kister wissen, als der Abend zu Ende geht. Robert Habeck überlegt, fängt an zu lachen. "Nicht auf jede Frage muss es eine gute Antwort geben."

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