Süddeutsche Zeitung

Freihandelsabkommen:Brüsseler Freihandelspläne sind eine Ohrfeige für die Bürger

Lesezeit: 4 Min.

Die EU-Komission will ohne die nationalen Parlamente über Freihandelsabkommen wie Ceta und TTIP entscheiden. Das ist nicht nur zynisch, sondern auch schädlich.

Gastbeitrag von Herta Däubler-Gmelin

Herta Däubler-Gmelin (SPD) war von 1972 bis 2009 Mitglied des Bundestages. Von 1998 bis 2002 war Däubler-Gmelin Bundesjustizministerin im Kabinett Schröder.

Es ist kaum zu fassen: Erst in der vergangenen Woche hat die Mehrheit der britischen Wählerinnen und Wähler mit dem Brexit-Referendum dokumentiert, dass immer mehr EU-Bürgerinnen und Bürger die EU nicht mehr als Hoffnungsprojekt, sondern als Ansammlung arroganter und abgehobener Brüsseler Bürokraten begreifen, die sie ablehnen.

Alle sind nun schockiert, die EU-Regierungschefs kommen zu Beratungen zusammen. Man hört erste einsichtige Töne von Regierungs- und Parteichefs, aber auch von EU-Spitzen, dass die EU vereint agieren und zugleich bürgernäher und demokratischer werden müsse. Beides trifft zu und findet große Unterstützung gerade bei den Europa-Anhängern.

Die hoffen auf Änderungen, auf weniger Heimlichkeit und mehr Offenheit - zum Beispiel bei den Plänen Brüssels für die modernen Freihandelsabkommen Ceta und TTIP.

Die Bürger wollen solche Abkommen nicht

Und dann, am Dienstag, haut der Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker mit einem Paukenschlag dazwischen. Er verkündet, dass Ceta, also das Freihandelsabkommen zwischen der EU und Kanada, ein "reines" EU-Abkommen sei. Es müsse also nur von den EU-Institutionen, nicht aber von den Mitgliedstaaten und deren Parlamenten akzeptiert werden. Die hätten damit nichts zu tun. Das habe er gerade den Regierungschefs vorgetragen, die ja zum Brexit-Sondergipfel in Brüssel versammelt waren und von denen habe keiner widersprochen. Man reibt sich die Augen!

Sollte die EU-Kommission am kommenden Dienstag wirklich die Vorstellung der deutschen Übersetzung von Ceta mit ihrem Vorschlag verbinden, dieses Abkommen - an den Mitgliedstaaten und ihren Parlamenten vorbei - nur EU-Institutionen zur Zustimmung vorzulegen, dann ist das eine schallende Ohrfeige an die Bürgerinnen und Bürger Europas.

Junckers Ankündigung ist falsch, zynisch und schädlich für Europa

Seit Jahren tragen sie ihre Kritik an diesen modernen Freihandelsabkommen vor: Sie wollen solche heimlich unter Lobby-Beteiligung ausgehandelten Abkommen nicht, die mit einseitigen Klauseln Demokratie und Rechtsstaat schwächen und geltende Schutzregelungen für Arbeitnehmer, Verbraucher, für Kultur und Daseinsvorsorge aufweichen. Sie wollen auch keine EU, die Demokratie und Öffentlichkeitsbeteiligung gezielt abbaut und den Entscheidungen der Bürokraten von Brüssel im Verbund mit denen aus nationalen Ministerien und Wirtschafts-"Experten" immer mehr Gewicht beimisst.

Alle wissen, dass es von dem Inhalt eines Abkommens abhängt, ob es nur EU-Institutionen oder auch die Mitgliedstaaten ratifizieren müssen: Greifen seine Klauseln in Vorbehaltsrechte der Mitgliedstaaten ein, dann führt kein Weg an deren Parlamenten vorbei. Das trifft, wie längst juristisch belegt, auf CETA zu. Auch der EU- Kommissionspräsident weiß das. Gerade deshalb ist Jean-Claude Junckers Ankündigung, die Öffentlichkeit und die Parlamente der Mitgliedstaaten zu umgehen, nicht nur falsch und zynisch, sondern auch gezielt schädlich für Europa. Sie bestätigt genau den Vorwurf der Arroganz und bürokratischen Abgehobenheit, mit dem die Feinde der EU seit Jahren das europäische Projekt unterminieren.

Nun mögen Manche fragen, ob der Kommissionspräsident aus Unachtsamkeit, aus Ungeschicktheit gehandelt hat, etwa so wie der zuständige Handelskommissar de Gucht aus der Vorgänger-Kommission, der ja Jahre lang versucht hat, die Öffentlichkeit mit - sagen wir - bemerkenswert törichten Äußerungen in die Irre zu führen. Ich fürchte, mit Juncker ist es schlimmer: Ihm könnte es darum gehen, durch das EU-Kanada-Abkommen ohne lästige Einflussmöglichkeit der EU-Bürgerinnen und -Bürger jene "marktkonforme Demokratie" völkerrechtlich festzuschreiben, die ja auch Bundeskanzlerin Merkel im Bundestag gerühmt hat.

Deren Einführung bedeutet den Abschied von einer kontrollierenden partizipativen Demokratie mit kontrollierender Öffentlichkeit zugunsten eines Systems, in dem die Wähler zwar Parlamente wählen können, in dem aber die wichtigen Entscheidungen von Bürokraten im Verein mit den Experten, sprich: den Wirtschafts-Lobbyisten längst vorher getroffen werden. Ein solches System wollen die Bürgerinnen und Bürger weder in ihren Staaten, noch auf europäischer Ebene.

Gestern konnte man auch Widerspruch gegen die Pläne des EU - Kommissionspräsidenten hören. Das ist gut und erfreulich. Auch Bundeskanzlerin Merkel und Wirtschaftsminister Gabriel haben widersprochen. Das reicht jedoch nicht aus, denn beide wissen, Juncker übrigens auch, dass nur ein einstimmiges Votum des Europäischen Rates den Vorschlag der EU- Kommission inhaltlich abändern kann. Beide müssen deshalb in Brüssel erreichen, dass Juncker seine Ankündigung unverzüglich, also vor Dienstag, zurücknimmt und inhaltlich korrigiert.

Das Europäische Parlament muss die Notbremse ziehen

Es darf also nicht bei dem bisherigen verbalen Widerspruch bleiben, weil sonst genau jener Verdacht nicht ausgeräumt wird, es werde wieder einmal mit verteilten Rollen jener Art gespielt, die wir in den letzten Jahren häufig erlebt haben: In Brüssel stimmt man zu oder wenigstens nicht dagegen und wenn dann zuhause Widerstand aufkommt, dann zeigt man anklagend mit dem Finger auf die Brüsseler Euro-Bürokraten. Auch das hat den Vertrauensverlust der Bürgerinnen und Bürger in die EU dramatisch befördert.

Wichtig ist, dass auch das Europäische Parlament Flagge zeigt. Das kann und muss es tun: Dort muss ebenfalls die Notbremse gezogen und der EU - Kommission und dem Europäischen Rat klar erklärt werden, dass auch eine Vorabanwendung von CETA ohne vorherige inhaltliche Änderungen nicht in Frage kommt. Daran hängt die Glaubwürdigkeit des Europäischen Parlaments, übrigens auch die von Merkel und Gabriel, die ja einflussreiche Vorsitzende großer Parteien sind.

Die EU als Zone des Friedens, der Demokratie und Menschenrechte, wie auch wachsender Solidarität steht auf der Kippe. Das ist gerade für die hartnäckigen Unterstützer eines Vereinten Europas kaum zu ertragen. Cameron mit seiner rein parteipolitischen Taktik hat gezündelt - und verloren. Die Häufen aus den Scherben der zerbrechenden Glaubwürdigkeit werden immer größer. Sehen Juncker und die Regierungsverantwortlichen die Zeichen an der Wand nicht? Wollen Sie sie nicht sehen?

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