Süddeutsche Zeitung

EU:Die Finanzminister sind stolz auf Europa

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Beim Treffen in Brüssel geht es natürlich um die ewige Debatte über Sparen oder Schuldenmachen. Aber nicht nur.

Von Josef Kelnberger, Brüssel

Die Europäische Union hat sich während der Corona-Krise zum Besseren verändert, davon ist Frankreichs Finanzminister Bruno Le Maire überzeugt. Vor einigen Jahren noch habe betretenes Schweigen am Tisch geherrscht, wenn er im Kreis seiner Kolleginnen und Kolleginnen für Investitionen im großen Stil plädiert habe. Und das Wort "gemeinsame Schulden" habe man nicht in den Mund nehmen dürfen. Nun, so sagt er, hätten alle erkannt, dass es sich lohnt, notfalls auch Tabus zu brechen.

Die Krise als Chance: Durch das Aussetzen der europäischen Stabilitätskriterien und ein massives Wiederaufbauprogramm haben die europäischen Staaten dauerhafte Rezession und Massenarbeitslosigkeit verhindert. Frankreich erwartet in diesem Jahr sogar ein Wachstum von mehr als sechs Prozent. Im Laufe nächsten Jahres werden alle 27 Länder wohl wieder die Wirtschaftsleistung erreichen, die sie vor der Pandemie hatten. "Das sollte für Europa eine Quelle des Stolzes sein", sagt Le Maire.

Le Maire war am Montag und Dienstag in Brüssel zu Gast beim Treffen der Eurogruppe und des Rates für Wirtschaft und Finanzen. Die Botschaft, die er am Dienstag bei seiner Pressekonferenz aussandte, war vorwiegend in die Heimat gerichtet: "Europa ist der beste Schutz für die Staaten!" Sie ist als Kampfansage an die Nationalisten zu verstehen, die seinen Präsidenten Emmanuel Macron im Wahlkampf herausfordern. Aber Le Maire steht nicht allein mit seinem Eindruck, dass sich die Finanzminister ungewöhnlich einig sind über die positive Wirksamkeit europäischer Politik. Von "vielen stolzen Gesichtern am Tisch" sprach auch der für Wirtschaft zuständige EU-Kommissar Paolo Gentiloni. Offen bleibt, was daraus folgt. Noch mehr Schulden?

Bei der Frage richten sich in Brüssel alle Blicke auf die Koalitionsverhandlungen in Berlin. Der österreichische Finanzminister Gernot Blümel ließ erkennen, dass er sich den FDP-Vorsitzenden Christian Lindner als neuen Amtskollegen wünscht - in der Hoffnung, der möge wieder deutsche Solidität in der EU durchsetzen. Es gibt in der EU offenbar neben dem neuen Stolz auch noch viele alte Vorurteile. Le Maire dagegen bestreitet, dass der alte Graben zwischen mehr auf Stabilität und mehr auf Wachstum bedachten Ländern noch besteht. Er rühmte die deutsch-französische Zusammenarbeit während der Corona-Krise, die alle Gräben überbrückte und den mit 800 Milliarden Euro bestückten Wiederaufbaufonds ermöglichte. Diese Partnerschaft werde auch unter Kanzler Olaf Scholz Bestand haben. Letztlich, so sagt er, sei allen bewusst, dass Europa Wachstum brauche und weiterhin ganz massiv investieren müsse - um den Wandel zur Klimaneutralität zu finanzieren; aber auch, um unabhängig zu werden von China und den USA.

Den nationalen Rahmen für staatliche Investitionen gibt der europäische Stabilitäts- und Wachstumspakt vor. Die Kommission hat vor zwei Wochen eine Reform angestoßen, die Finanzminister diskutierten nun erstmals darüber. Das Regelwerk für solide Haushaltsführung wird wohl Anfang 2023 wieder in Kraft treten, aber die Ziele - ein Haushaltsdefizit von maximal drei Prozent der Wirtschaftsleistung bei einem Schuldenstand von maximal 60 Prozent - scheinen für viele Staaten unerreichbar geworden zu sein. Le Maire hat zu erkennen gegeben, dass er Teile des Pakts für "obsolet" hält. Er plädiert dafür, dass jeder Staat eigene, realistische Ziele der Haushaltskonsolidierung verfolgen soll. Auch gehört er zu den Anhängern der Idee, "grüne" Investitionen aus der Verschuldung herauszurechnen. Unter der französischen Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 2022 wird die Debatte Fahrt aufnehmen.

Derzeit wollen sich die Finanzminister vor allem den aktuellen Gefahren widmen, die ihren Volkswirtschaften drohen. Die Inflation werde hartnäckiger ausfallen als ursprünglich befürchtet, vor allem getrieben von den Energiepreisen, darin sind sich alle einig. Deshalb nutzte Le Maire die Treffen in Brüssel, um für eine Reform der Energiemärkte zu werben. Er schlug unter anderem einen "automatischen Preisstabilisator" vor: Energieproduzenten, die wegen der gestiegenen Preise hohe Gewinne machen, sollten diese an ihre Kunden weitergeben. Als Beispiel nannte er den mehrheitlich staatlichen französischen Energiekonzern EDF. "Wenn der Gaspreis bei 150 Euro liegt und ein Stromlieferant nur 50 Euro Produktionskosten hat, wie es bei EDF der Fall ist, fallen automatisch hohe Gewinne an." Davon sollten private Kunden und Unternehmen profitieren.

So ernst diese Probleme seien, sagt Bruno Le Maire: Vor eineinhalb Jahren, als das Coronavirus ganz Europa lahmlegte, hätte man sie noch für Luxusprobleme gehalten.

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