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Edeka-Spot:Heul doch! Wie Werbeagenturen mit Emotionen spielen

Lesezeit: 5 min

Dass der neue Edeka-Spot die Menschen so berührt ist kein Zufall, sondern Methode.

Von Angelika Slavik und David Steinitz

Jens Pfau lümmelt auf einem großen grauen Sofa. Dunkle Jeans, Nikes, Pullover und Vollbart. Natürlich Vollbart. Er sieht aus wie Hamburger Jungs eben so aussehen, auch wenn er eigentlich aus Baden-Württemberg kommt. "Na ja", sagt er. Lange Pause. Er legt den Kopf in den Nacken. Noch längere Pause. "Wir machen so etwas nicht leichtfertig."

Pfau, 37, ist leitender Kreativer bei der Werbeagentur Jung von Matt. Er hat den neuen Werbespot der Supermarktkette Edeka entwickelt, der binnen weniger Stunden im Internet viele Millionen Mal angeklickt wurde. Man könnte auch sagen, Pfau ist der Mann, der in Deutschland in der vergangenen Woche viele Tränen verschuldet hat. Deshalb muss er sich nun auch diese Frage stellen lassen: Ob er eigentlich ein schlechtes Gewissen hat?

Vorrutschen, bis an die Sofakante.

"Ich weiß schon, was wir den Leuten damit antun."

Der Edeka-Spot also. Der Edeka-Spot erzählt die Geschichte eines alten Mannes, der Weihnachten Jahr für Jahr allein feiern muss. Die erwachsenen Kinder sind, und das macht die Sache komplex, gar nicht unsympathisch, sondern nur ziemlich beschäftigt, so wie alle eben. Erst als sie die Nachricht vom Tod des Vaters erreicht, kommen sie nach Hause, in Tränen aufgelöst und voller Schuldgefühle - wo sie der alte Herr quicklebendig empfängt und sagt, er habe eben keinen anderen Weg mehr gewusst, um die Familie endlich mal zusammenzubringen.

Das ist emotional ziemlich schwerer Stoff, daran ändert auch die Schlusseinstellung vom fröhlichen Familienabendessen nichts mehr. Keine zwei Minuten dauert dieser Werbefilm, er rührt an Erinnerungen, die man nicht hervorholen will, er weckt Schuldgefühle, Verlustängste, und Zweifel am eigenen Lebenskonzept. Zudem trifft all das die Betrachter unvorbereitet, weil es doch eigentlich nur Werbung ist: Man erwartet Informationen über ein Sonderangebot für Sauerkraut im Aromapack und bekommt stattdessen einen Stich ins Herz.

Pfau sagt, er wisse, wie hart das sei, aber er finde es nun mal wichtig, deutlich zu machen, worum es an Weihnachten eigentlich gehen sollte. Um Familie, ums Zusammenkommen. Das sei auch das Briefing des Kunden gewesen. Man habe "einen emotionalen Weihnachtsgruß an Deutschland" schicken wollen.

Zwei Faktoren sind wichtig in der Werbung: Aufmerksamkeit und Emotion

Angekommen ist sie zumindest: Bis Freitagabend wurde das Video allein auf der Internetplattform Youtube mehr als 30 Millionen Mal angesehen, dazu kommen weitere 18 Millionen Aufrufe bei Facebook. Viele der Reaktionen sind enthusiastisch positiv, aber es gibt auch kritische Stimmen. Solche, die diesen Spot "geschmacklos" nennen oder finden, dass all das für eine Supermarkt-Werbung schlicht zu weit gehe. Tatsächlich könnte man die Frage stellen, wo denn der Zusammenhang zwischen der Einsamkeit vieler älterer Menschen und dem Aromapack-Sauerkraut bei Edeka liegt.

Das Kalkül geht so: In der Werbung sind zwei Faktoren mehr wert als alles andere. Der erste ist Aufmerksamkeit, die ist Edeka nun sicher. Und der zweite ist Emotion. Pfau sagt: "Natürlich ist Humor wesentlich leichter zu ertragen, aber ein lustiger Spot ist auch schneller wieder vergessen. Über diese Geschichte dagegen werden wir noch jahrelang reden." Für Edeka sei dieser Spot die Möglichkeit, deutlich zu machen, wie man zu Weihnachten stehe, welche Werte das Unternehmen transportieren wolle.

Im besten Fall, so kalkuliert die Werbeindustrie, macht diese geballte Emotion dann aus dem Unternehmen eine "Lovebrand". So nennt die Branche so etwas, also eine Herzensmarke, der die Kunden nicht mehr rational begegnen, sondern der sie unkritisch und aus emotionaler Verbundenheit heraus die Treue halten.

Edeka ist nicht das erste Unternehmen, das auf diese Strategie setzt. Die Telekom etwa machte vor einigen Jahren den Castingshow-Auftritt des Briten Paul Potts zum Mittelpunkt ihrer Werbespots, in der Hoffnung, die Rührung über den Erfolg des bis dahin vom Leben nicht verwöhnten Sängers würde sich auch auf die Wahrnehmung des Konzerns positiv auswirken. 2013 warb Bob Carey für das Unternehmen, er hatte rund um den Globus in einem rosafarbenen Tutu für Fotos posiert, um damit seine schwerkranke Frau aufzuheitern. Ganz große Emotionen für den ganz großen Gewinn.

Ein Meisterstück des Werbefilms

Die Werber nennen diese Strategie Storytelling, es werden also Geschichten erzählt - manchmal reale, wie bei der Telekom, manchmal fiktive wie bei Edeka -, um die Gefühlsebene der Konsumenten anzusprechen, statt sie rational überzeugen zu wollen, indem man auf ein bestimmtes Produkt und dessen Vorzüge in Hinblick auf Preis oder Qualität hinweist.

So gesehen ist der Edeka-Spot strategisch sehr moderne Werbung. Und auch wenn man das Video rein ästhetisch betrachtet, muss man sagen: Der Clip ist ein Meisterstück des Werbefilms. Inszeniert hat ihn der deutsche Regisseur Axel Pfeil. Sein Auftragswerk für Edeka dauert nur eine Minute und 46 Sekunden, also in etwa ein Hundertstel eines abendfüllenden Spielfilms - und erzählt in dieser kurzen Zeit dennoch eine Geschichte, die auch fürs Kino taugen würde. Der Clip besteht aus insgesamt 57 Einstellungen. Diese sogenannten "Shots" sind die kleinste Einheit eines Films. Mit ihnen bezeichnet man die Bildfolge, die ohne Unterbrechung, also ohne Schnitt gedreht wurde.

Die höchste Frequenz an Einstellungen haben in der Regel Werbeclips, Musikvideos und Actionfilme. Je mehr Einstellungen ein Regisseur von einer Szene drehen möchte, desto länger dauert der Dreh und desto teurer wird eine Produktion. Das ist auch der Grund, warum Fernsehfilme in der Regel mit deutlich weniger Einstellungen gefilmt werden als Kinofilme oder Werbung: sie haben kleinere Budgets und müssen billiger umgesetzt werden.

An der finanziellen Ausstattung mangelt es Werbeclip-Regisseuren in der Regel nicht - was auch der Grund dafür ist, dass sich dieser Beruf mittlerweile einer großen Beliebtheit erfreut. Selbst die meisten staatlichen Filmhochschulen in Deutschland, wie zum Beispiel in München oder Ludwigsburg, haben seit Jahren eigene Ausbildungsabteilungen für Werbung. Ein Sektor, in dem sich, im Vergleich zum Kino- und zum Fernsehbetrieb, mit relativ geringem Aufwand sehr viel Geld verdienen lässt. Unterschätzt wird dabei oft, dass auch Werbevideos eine äußerst schwierige Kunstform sind, die nur wenige wirklich meisterlich beherrschen - wie eben der Edeka-Mann Calle Astrand. In seinen 57 Einstellungen erzählt er eine komplette Geschichte mit einem großen Figurenpersonal an diversen Schauplätzen, verteilt auf die ganze Welt.

Til-Schweiger-Filme und Marmeladenwerbungen haben oft den gleichen Look

Damit am Ende keine konfuse Bildabfolge steht, sondern eben jenes rührende Video, wendet Astrand in komprimierter Form die Regeln des sogenannten "Feelgood-Movies" an. Das sind Filme mit dramatischem Subtext, die den Zuschauer aber moralisch geläutert und fröhlich zurücklassen - also zum Beispiel praktisch Filme mit Hugh Grant oder Til Schweiger. Erreicht wird die Stimmung durch weiche und satte Farben, durch romantisches Gegenlicht, das sich in Autofenstern spiegelt oder durch Blätter blitzt, eingefangen von einer ruhigen, elegant gleitenden Kameraführung. Die Besetzung der Charaktere muss so prägnant sein, dass sich jede Figur quasi beim ersten Anblick durch den Zuschauer selbst erklärt. Abgerundet wird das Ganze von harmlos-melancholischer Popmusik. Aufgrund dieser Zutaten haben Til-Schweiger-Filme und Marmeladenwerbungen oft den gleichen Look.

Was die wahren Clip-Meister aber von ihren Kollegen aus dem Spielfilmfach unterscheidet: Sie vermögen eine Geschichte in erster Linie über die Bilder und nicht über die Dialoge zu erzählen. Dem Edeka-Spot beispielsweise fehlt ohne Ton zwar der wohlig-weihnachtliche Popsong - aber selbst dann werden Handlung und Botschaft sofort klar.

Besonders raffiniert ist das Finale des Videos, in dem sich die Familie um den alten Herrn an einem großen Tisch versammelt. Diese Tafelrunde, dieses gemeinsame Abendmahl ist eins der ikonografischen Urbilder des christlichen Bilderkanons und soll verdeutlichen: Edeka beschert glückliche Weihnachten, Familie und Tradition.

Und das Sauerkraut ist übrigens gerade im Angebot.

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Quelle:
SZ vom 05.12.2015
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