Süddeutsche Zeitung

Bahnstreik:Vor dem Lokdown

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Schon von dieser Woche an drohen Deutschland die härtesten Streiks im Schienenverkehr seit Jahren. Warum der Tarifstreit ausgerechnet in der Ferienzeit eskaliert, und womit Pendler und Urlauber jetzt rechnen müssen.

Von Markus Balser, Berlin

Welche Züge in dieser Woche durchs Land fahren? Eigentlich ist das Sache der Bahnspitze in Berlin und ihrer Netzleitzentrale. Doch dort spürt man, dass die Fahrplan-Manager im eigenen Haus bald nicht mehr das Sagen haben werden. In dieser Woche wird ein Mann in den Bahnverkehr eingreifen, den sie hier alle noch mehr fürchten als Schnee, Unwetter und technische Störungen. Am Montag lässt der Chef der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL), Claus Weselsky, die Voten einer Urabstimmung auszählen. Am Dienstagvormittag will er in der GDL-Zentrale in Frankfurt am Main das Ergebnis bekannt geben.

Schon vorher ist ziemlich klar: Es droht ein harter Streik. Millionen Reisende und Pendler müssen sich in Deutschland von dieser Woche an auf massive Probleme im Bahnverkehr, auf Zugausfälle und Stillstand einstellen. Ausgerechnet zur Ferienzeit und während die Reiselust der Deutschen gerade an Fahrt gewinnt, nimmt eine der härtesten Tarifauseinandersetzungen der vergangenen Jahre ihren Lauf. Weselsky selbst rechnet bereits mit mehr als 90 Prozent Zustimmung zu einem Streik. Es gehe nicht nur um Nadelstiche, sagt er der Süddeutschen Zeitung.

Auch die Bahn stellt ihre Kunden schon mal auf das Schlimmste ein. "Man muss davon ausgehen, dass es zum Streik kommt", sagt der zuständige Bahn-Personalvorstand Martin Seiler. Insider fürchten längst ein Szenario, das so schlimm wird wie zwischen September 2014 und Mai 2015, als die GDL den größten deutschen Staatskonzern mit vielen Hundert Streikstunden und in mehreren sich steigernden Wellen immer wieder lahmlegte und schließlich in die Knie zwang. Von zehn Millionen Euro Ausfall pro Streiktag war damals die Rede.

Für die Deutsche Bahn könnten die Vorzeichen für einen solchen Arbeitskampf kaum schlechter sein. Gerade macht sich angesichts der Corona-Lockerungen wieder so etwas wie Reiselust breit. Gerade werden die Züge etwas voller, was die milliardenschweren Pandemieverluste und die nötigen Rettungsgelder aus Steuertöpfen endlich wieder dezimieren soll. "Letztlich ist das eine Attacke auf das ganze Land", echauffiert sich Bahn-Vorstand Seiler.

Die Tarifrunde ist so festgefahren wie selten

Zwischen Bahn und Gewerkschaft gibt es zwei große Streitlinien. Da sind zum einen Details bei Geld und Arbeitsbedingungen. Angesichts des Ausmaßes der Streikdrohungen wirkt die Lücke zwischen den Positionen klein. Die GDL fordert eine Lohnerhöhung von 3,2 Prozent in mehreren Schritten. Die würde die Bahn auch bieten. Allerdings weniger schnell als gefordert. Und für 40, statt wie von der GDL gewünscht, für 28 Monate. Auch bei den Arbeitsbedingungen wäre eine Einigung eigentlich in Reichweite - zumal noch gar nicht ernsthaft verhandelt wurde.

Eigentlich. Denn die Tarifrunde zwischen der Bahn und der Gewerkschaft ist so festgefahren wie selten. Beide Seiten werfen sich gegenseitig vor, Unwahrheiten zu verbreiten und kein Interesse an Verhandlungen zu haben. Schließlich ist da noch ein ganz anderes Thema. Verkompliziert wird die Tarifrunde durch den wohl wichtigsten Streitpunkt: die Existenzangst der GDL und ihren Machtkampf mit der gemessen an Mitgliedern noch deutlich größeren Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG).

Beide Gewerkschaften wollen gerne für fast alle 185 000 Beschäftigten in Deutschland beim Schienenpersonal verhandeln. Die Bahn sieht sich aber gezwungen, das Tarifeinheitsgesetz anzuwenden. Danach gilt ein Vertrag nur dort, wo die jeweilige Gewerkschaft die Mehrheit hat. Laut Bahn hat die GDL diese nur in 16 von insgesamt 300 Einzelbetrieben des Konzerns.

Zuletzt hatte die GDL mit Klagen versucht, vor Gericht zu erstreiten, dass ihr Tarifvertrag auch dann in einem Betrieb der Bahn gilt, wenn die GDL dort nicht die meisten Mitglieder hat. Doch die Gewerkschaft scheiterte in allen 29 Fällen. Zwar hat die Bahn als Kompromiss angeboten, dort, wo beide Gewerkschaften aktiv sind, auch die GDL zum Zuge kommen zu lassen. Doch das reicht der Gewerkschaft nicht. Sie würde ihren Einfluss gerne noch weiter ausbauen und geht nun in der Tarifauseinandersetzung in die Offensive.

Eine Einigung ist derzeit nicht in Sicht. Eher eine weitere Eskalation. Denn auch die Bahn denkt laut über juristische Schritte nach, um Weselsky in die Schranken zu weisen. "Es gibt in Deutschland klare Regeln für einen Streik. Wenn die verletzt werden, würden wir uns wehren", sagt Bahn-Vorstand Seiler. Streiken dürfen die Lokführer zwar für mehr Gehalt und bessere Arbeitsbedingungen. Gegen das Tarifeinheitsgesetz dürften sie mit einem Ausstand jedoch nicht vorgehen.

Die EVG zählt knapp 190 000, die GDL rund 37 000 Mitlieder, die meisten arbeiten dabei jeweils für die Bahn. Die Konkurrenzgewerkschaft EVG hatte schon im vergangenen Herbst einen Tarifabschluss mit dem Konzern unterschrieben. Dieses Jahr gab es eine Nullrunde, Anfang 2022 erhalten die Beschäftigten 1,5 Prozent mehr Geld. Betriebsbedingte Kündigungen sind ausgeschlossen. Die Bahn fordert Zugeständnisse von den Beschäftigten besonders in diesem Jahr, um die Milliardenverluste bewältigen zu können.

"Mir ist keine Limitierung bekannt"

Auch wenn die GDL deutlich kleiner ist: Ihre Streiks gelten als besonders wirksam, weil sie nach eigenen Angaben rund 80 Prozent der Lokführer der Bahn sowie 40 Prozent der Zugbegleiter vertritt. Ohne ihre Mitglieder ist der Zugbetrieb der mehr als 1300 Fern- und über 22 000 Nahverkehrszüge pro Tag in Deutschland kaum aufrechtzuerhalten. Für den Fall eines Streiks arbeitet die Bahn deshalb auch bereits an einem Notfahrplan, um wenigstens eine Grundversorgung aufrechtzuerhalten.

Wie lange das nötig wäre, steht derzeit in den Sternen. Nach der möglichen Dauer eines Ausstandes der Lokführer gefragt, antwortete Weselsky so knapp wie kämpferisch: "Mir ist keine Limitierung bekannt, wie lange ein Streik dauern könnte."

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