Süddeutsche Zeitung

Offene Stellen:Welche Krise? Firmen fehlt so viel Personal wie nie

Lesezeit: 3 min

Trotz Inflation und Krieg suchen Deutschlands Unternehmen händeringend Personal, und das in fast allen Branchen. Damit entkoppelt sich der Arbeitsmarkt ein Stück weit von der Konjunktur.

Von Alexander Hagelüken

Inflation, Lieferprobleme, Krieg: Werden Deutsche nach der ökonomischen Lage gefragt, sind sie derzeit pessimistisch wie selten. Sollte Russland gar kein Gas mehr liefern, würde das auch ziemlich sicher zu einem wirtschaftlichen Einbruch führen. Aber vielleicht kommt es ja gar nicht so schlimm. Aktuell jedenfalls stellt sich die tatsächliche Lage viel besser als die Stimmung dar, wie neue Daten zeigen: Von April bis Juni fehlten deutschen Firmen fast zwei Millionen Arbeitskräfte - so viele wie noch nie.

"Trotz erheblicher Rezessionsgefahren ist die Zahl der offenen Stellen weiter stark angestiegen", meldet Alexander Kubis vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB). Schon von Januar bis März hatten die deutschen Unternehmen so viel Personal gesucht wie nie. Im zweiten Quartal meldeten sie jetzt nochmal knapp 200 000 offene Stellen mehr. Und das, obwohl die Inflationsrate weiter anstieg - und Russland die Ukraine überfallen hat. "Wir waren überrascht, dass die Zahl der offenen Stellen weiter nach oben gegangen ist", sagt Forscher Kubis. "Die Risiken wirken sich offenbar noch kaum aus."

Der Mangel zeigt sich in fast allen Branchen. Viele Unternehmen hätten gerne Arbeitskräfte, die sie nicht kriegen können. Am Bau, in der Industrie und im Gesundheitssektor herrscht schon länger - und weiterhin - Personalknappheit. Während jedoch bisher über einen Mangel an teils hochspezialisierten Fachkräften geredet wurde, werden jetzt auch weniger Qualifizierte gesucht. Gaststätten oder Flughäfen haben Nachholbedarf, weil sie in der Corona-Krise Stellen abgebaut oder altersbedingt ausscheidende Mitarbeiter nicht ersetzt haben. Nun tun sie sich schwer, geeignete Leute zu finden.

"Das Tempo des demografischen Schwundes ist rasant"

Wie groß die Veränderung ist, zeigt eine Zahl: Aktuell melden Firmen 800 000 offene Stellen mehr als vor einem Jahr. Das bedeutet ein Plus von sage und schreibe 66 Prozent. Ein wichtiger Grund dafür ist, dass die geburtenstarken Jahrgänge in den Ruhestand gehen - und viel zu wenig Arbeitnehmer nachkommen. "Das Tempo des demografischen Schwundes ist rasant", sagt IAB-Wissenschaftler Kubis. "Die Unternehmen haben noch keine Erfahrung, wie sie damit umgehen sollen."

Normalerweise gibt es dann sehr viele offene Stellen, wenn die Wirtschaft sehr gut läuft. Jetzt ist etwas Neues zu sehen: Die Unternehmen haben Ersatzbedarf, weil jedes Jahr weniger mögliche Mitarbeiter zur Verfügung stehen. Damit entkoppelt sich der Arbeitsmarkt ein Stück weit von der Konjunktur. Das heißt, Arbeitskräfte werden rarer, die Unternehmen kämpfen stärker um sie - selbst wenn sie sich Sorgen um die Zukunft machen.

Trotzdem kann es natürlich Schocks geben, die zu höherer Arbeitslosigkeit führen. Falls etwa die Inflation noch höher steigt, könnten die Deutschen weniger konsumieren - falls die Bundesregierung ihre teuerungsbedingten Mehrausgaben nicht ausreichend ausgleicht. Falls etwa die chinesische Null-Covid-Strategie die Lieferprobleme verschärft, können deutsche Firmen weniger produzieren und bauen womöglich Stellen ab. Das größte Risiko ist, dass Russland die Gaslieferungen komplett einstellt, was die Industrie hart treffen würde.

Allerdings: All das muss nicht passieren. Und wenn keines der Risiken voll durchschlägt, dürfte die deutsche Wirtschaft dieses Jahr um rund zwei Prozent wachsen - nicht gerade wenig. Um seinen Arbeitsplatz müsste sich dann kaum jemand sorgen.

Die Rente der Babyboomer-Jahrgänge fordert ihren Tribut ein

Auch wenn es zu einem wirtschaftlichen Einbruch wie in der Corona-Krise kommen sollte, darf man eines annehmen: Sobald diese Rezession überwunden ist, dürfte der Personalmangel wieder ein Thema am Arbeitsmarkt sein - wahrscheinlich das zentrale. Denn die Rente der Babyboomer-Jahrgänge fordert ihren Tribut ein. Wegen der Demografie sinkt das Potenzial an Arbeitskräften in Deutschland von 2020 bis 2035 um sieben Millionen, sagt das IAB voraus. Und bis 2060 schrumpft es nochmal um neun Millionen. Das bedeutet einen gewaltigen Personalmangel.

Wissenschaftlern fallen eine Reihe von Dingen ein, was man dagegen tun könnte. Etwa eine frühzeitige Gesundheitsvorsorge schaffen, damit ältere Beschäftigte länger arbeiten können, als sie dies bisher tun. Oder weiblichen Beschäftigten ermöglichen, mehr Stunden zu arbeiten. Dafür müsste es etwa bessere Kinderbetreuungsangebote angeben. Oder Frauen müssten nicht mehr meist alleine zuständig sein, wenn ältere Familienangehörige Hilfe brauchen. Oder Männer sich mehr um Haushalt und Kinder kümmern.

Ökonomen halten noch etwas anderes für unverzichtbar, was politisch umstritten ist: mehr Zuwanderung. Um die Arbeitskräftelücke zu verringern, müssten jedes Jahr 400 000 Menschen mehr nach Deutschland kommen als das Land verlassen. Dieses Jahr könnten durch die Flucht aus der Ukraine sogar 600 000 Menschen mehr zuwandern. Allerdings ist unklar, wie viele von ihnen bleiben wollen, was vom Kriegsverlauf abhängt. Sieht man von den Ukrainern ab, sind die Prognosen mau: Demnach ist in den nächsten Jahren nur mit netto 140 000 Zuwanderern im Jahr zu rechnen.

Forscher Kubis sieht eine weitere Aufgabe: Die Deutschen beim ökologischen und digitalen Umbau der Wirtschaft fit zu machen für neue Jobs, "durch viel mehr Aus- und Weiterbildung". Sonst drohe der Personalmangel noch schlimmer zu werden.

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