Süddeutsche Zeitung

Arbeitsmarkt:Mehr Jobs, weniger Geld

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Die Arbeitslosigkeit sinkt weiter, obwohl manche Firma schon die nächste Welle fürchtet. Durch die Pandemie schrumpfen die realen Löhne erstmals seit zehn Jahren.

Von Alexander Hagelüken

Deutschland findet aus der Corona-Krise. Im Juli suchten erneut weniger Bürger Arbeit als im Monat zuvor. "Das Wachstum der Beschäftigung hält an. Und die Unternehmen suchen vermehrt nach neuem Personal", sagte der Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit (BA), Detlef Scheele. Sorgen gibt es wegen einer vierten Corona-Welle - und wegen möglicher dauerhafter Schäden durch die Pandemie.

Bisher jedoch hält der positive Trend an. Die Zahl der Arbeitslosen schrumpfte im Juli um 24 000 auf knapp 2,6 Millionen. Und das, obwohl die Zahl der Stellensuchenden in der Urlaubssaison sonst zunimmt, etwa weil manche Jobs in dieser Zeit auslaufen und Unternehmen wenig neue Angebote machen. "Dass die Arbeitslosigkeit zu Beginn der Sommerpause sinkt, ist absolut unüblich", hebt Agenturchef Scheele hervor. Das geschah zum letzten Mal vor 15 Jahren.

"Im Moment erholt sich der Arbeitsmarkt stark von der Pandemie", analysiert Enzo Weber vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB). Dafür gibt es mehrere Gründe. So zieht die Weltkonjunktur schon länger an. US-Präsident Joe Biden stimuliert die Wirtschaft durch riesige Ausgabenprogramme. Die deutschen Exporte nehmen zu. Die Industrie stellt wieder vermehrt Leute ein, registriert das Münchner Ifo-Institut. So suchen unter anderem Chemiefirmen verstärkt Mitarbeiter. In einigen Unternehmen fehlen schon wieder Fachkräfte - ganz wie vor der Krise.

Eine mögliche vierte Welle gefährdet das Wachstum

Positiv wirkt sich aus, dass lange geschlossene Restaurants und Geschäfte öffnen dürfen. Der über Monate schwer getroffene Handel heuert wieder Personal an. Insgesamt haben die meisten Branchen in Deutschland bereits mehr sozialversicherte Beschäftigte als vor der Pandemie - ein großer Erfolg.

Es zeichnen sich zwei Risiken ab. So fehlen vielen Firmen Chips und andere Teile. Der Autobauer Daimler schickt deshalb Tausende Beschäftigte in Kurzarbeit. Viele Ökonomen halten diese Probleme jedoch für temporär. Ein größeres Problem könnte eine vierte Corona-Welle durch die sehr ansteckende Delta-Variante werden. Frühindikatoren für die Wirtschaft wie der Ifo-Index geben bereits nach.

Dabei sind noch viele Fragen offen. Müssen bei einer neuen Corona-Welle überhaupt so viele Restaurants und Geschäfte geschlossen werden, wenn anders als bei den vorherigen Wellen viele Deutsche geimpft sind? "Die Risiken sind im Kommen", bilanziert IAB-Forscher Enzo Weber - und zeigt sich trotzdem optimistisch, dass es keine dramatischen Folgen für Arbeitsplätze geben wird. Agenturchef Scheele rief die Bürger auf, sich impfen zu lassen: "Die Daten zeigen, dass die Impfstoffe trotz der Delta-Variante wirken." Scheele forderte eine Debatte darüber, Geimpften und Genesenen Privilegien einzuräumen. "Man kann das nicht einfach so laufen lassen, dafür sind die Risiken für Wirtschaft und Gesellschaft zu groß."

Insgesamt wird so oder so ein Corona-Schaden am Arbeitsmarkt bleiben. 2019, dem Jahr vor der Pandemie, stieg die Zahl der Beschäftigten jeden Monat um etwa 40 000. Diesen Zuwachs hat das Virus seit Frühjahr vergangenen Jahres verhindert - und zusätzlich Jobs vernichtet. Im Juni hatten eine halbe Million Bürger weniger Arbeit als vor der Pandemie.

Zudem befeuerte die Corona-Krise den Strukturwandel. Die Deutschen kaufen mehr online und weniger im Warenhaus. Videokonferenzen ersetzen Dienstreisen mit Flügen und Übernachtungen im Hotel. Da gehen Hunderttausende Jobs auf Dauer verloren. Ja, der Wandel bringt auch neue Arbeitsplätze, in der Informationstechnik, im Pharma- und Gesundheitssektor. Unterm Strich errechnet Ökonom Weber jedoch ein dauerhaftes Corona-Minus von 200 000 Arbeitsplätzen.

Nach Inflation sinken die Löhne

Eine weitere Wirkung der Krise spüren die Arbeitnehmer im Geldbeutel: Ihr Gehalt entwickelt sich nicht so gut wie in den Jahren zuvor. Dieses Jahr nehmen die bisher per Tarifvertrag vereinbarten Löhne im Schnitt nur um 1,6 Prozent zu, so das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI). Zum Vergleich: 2018 und 2019 war das Plus fast doppelt so hoch. Der Rückgang ist leicht erklärt: Angesichts der schweren Rezession bestanden die Gewerkschaften zuletzt kaum auf deutlichen Lohnsteigerungen, um keine Entlassungen zu provozieren. So gab sich die IG Metall für die vier Millionen Beschäftigten der Branche mit einer einmaligen Prämie zufrieden. Eine dauerhafte Lohnerhöhung wurde erst für kommendes Jahr vereinbart.

Negativ wirkt sich für die Arbeitnehmer aus, dass die Verbraucherpreise stark zulegen, im Juli standen sie sogar 3,8 Prozent höher als ein Jahr zuvor. Dadurch schrumpfen die Tariflöhne, wenn man die Inflation berücksichtigt. Zwar fällt das Minus mit 0,2 Prozent klein aus. Aber es ist ein Einschnitt für die Arbeitnehmer: Der reale Lohn sinkt erstmals seit zehn Jahren. In den vergangenen beiden Dekaden geschah das überhaupt nur drei Mal.

Wie geht es am Arbeitsmarkt weiter? Damit der Sockel an Arbeitslosen nicht dauerhaft höher wird, braucht es nach einer Krise sehr viele Neueinstellungen. Das gelang nach den schweren Rezessionen der Bundesrepublik nur einmal: Nach der Finanzkrise 2008/09. Diesmal allerdings erlebt das Land nicht nur eine Rezession, sondern auch einen Umbruch zu Digitalisierung und weniger klimaschädlichen Autos oder Stahlprodukten. Es gibt einige Hunderttausend Langzeitarbeitslose mehr als vor der Krise.

IAB-Ökonom Weber fordert die nächste Bundesregierung auf, gegenzusteuern, um langfristige Schäden so gering wie möglich zu halten. Etwa mit mehr Lohnkostenzuschüssen an Firmen, die Personal einstellen. Und mit der Finanzierung von Zweitausbildungen für Beschäftigte, die den Beruf wechseln - zum Beispiel weil ihr Autokonzern keine Verbrennungsmotoren mehr herstellt.

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