Süddeutsche Zeitung

Industrie-Cloud:Warum der Deal von VW mit Amazon besonders ist

Lesezeit: 4 min

Von Max Hägler und Helmut Martin-Jung, München

Monitore in der Konzernzentrale in Wolfsburg statt Drehschalter in der Autofabrik in Chattanooga. Wenn man es so zusammenfasst, wird deutlich, wie bedeutsam die Partnerschaft ist, die der Volkswagen-Konzern gerade eingeht. Mit dem großen IT-Unternehmen Amazon wird der Fahrzeugbauer in den kommenden fünf Jahren an einer Vernetzung aller Werke, Lager, Roboter und Maschinen arbeiten. Die sogenannte "Industrie-Cloud" soll helfen, die Produktivität in der Fertigung binnen sechs Jahren um 30 Prozent zu steigern. Etwa 220 Software-Spezialisten beider Häuser arbeiten dafür ab sofort an Diensten und Funktionen.

122 Fabriken betreibt der Konzern weltweit. Für zwölf Marken - von Audi über MAN bis Skoda und VW - bauen sie mehr als zehn Millionen Autos und Laster pro Jahr. Es ist ein Konzert, das in einem klaren Takt läuft. Der Vertrieb fordert mehr Wagen eines Modells an, das Werk plant das ein, die Planer schicken veränderte Bestellungen an die Zulieferfirmen hinaus - die dann wieder, just in time, anliefern sollen, damit auf den Bändern alles montiert werden kann. Deutsche Autobauer sind darin verhältnismäßig meisterhaft.

Aber es geht noch besser, glauben sie bei VW. Konzernchef Herbert Diess sagte unlängst auf einer Betriebsversammlung, Volkswagen sei "im Wettbewerbsvergleich in unseren Fabriken und in der Verwaltung langsamer und weniger produktiv". Gefährliche Umstände in Zeiten, in denen ein Autobauer viel Geld in die Entwicklung neuer Antriebe oder Roboterfunktionen stecken muss. Tatsächlich besteht die Produktionsplanung aus einem Gewirr von Listen, Tabellen, Computersystemen, die überall unterschiedlich gehandhabt werden: Die Zentrale in Wolfsburg hat keine Live-Daten darüber, was das Werk in Chattanooga, USA, genau macht zu einem bestimmten Zeitpunkt. Und schon gar nicht dazu, welche Maschine gerade läuft oder wo Material fehlt.

"Wachsendes industrielles Ökosystem"

Das soll sich bald ändern mit Hilfe von Amazon, so hoffen sie in Wolfsburg. Die höhere Transparenz soll Geld sparen und die Qualität der Fertigung erhöhen. "Wir werden die Produktion als Wettbewerbsfaktor für den Volkswagen-Konzern weiter stärken", beschreibt es etwas umständlich Oliver Blume, der Porsche-Chef ist und im Vorstand der Konzernmutter Volkswagen für das Zusammenspiel der Fabriken zuständig. Ihm schwebt vor, dass aus der Zusammenarbeit mit Amazon ein "wachsendes industrielles Ökosystem" wird, das auch die 1500 Zulieferfirmen mit ihren über 30 000 Standorten vernetzt. Ja, langfristig sollen sogar andere Hersteller und deren Fabriken vernetzt werden in dieser "offenen Plattform". Von der Datenbasis würden alle Partner profitieren. Amazon würde dabei "mit seinem Technologie-Know-how" die Grundlagen schaffen für eine solche "Industrie-Cloud".

Der Begriff dabei, diese "Cloud", kennen mittlerweile auch normale Internetnutzer: Sie laden Fotos in die Cloud hoch oder speichern dort in der Arbeit Daten. Tatsächlich ging es anfangs vor allem darum, Speicheraufgaben und Rechenaufgaben in Datenzentren zu verlagern, die per Internet angebunden sind. Damit steigt die Sicherheit vor Verlusten, weil in Datenzentren die Informationen mehrfach vorhanden sind. Und es lassen sich auch Kosten sparen, weil Endkunden oder Firmen nicht vor Ort große Server betreiben müssen.

Bei Unternehmen wie VW, die weltweit arbeiten, kommt ein anderer Aspekt hinzu. Die Daten, die bei der Produktion in immer schneller wachsender Menge anfallen, müssen im gesamten Konzern zur Verfügung stehen. Nur so lässt sich die Produktivität noch weiter steigern, nur so kann Software mithilfe von künstlicher Intelligenz die Abläufe durchleuchten und optimieren und im Zweifel auch Anlagen steuern. Damit wird aus dem bloßen Speichern und Rechnen eine beinahe vollständige Vernetzung und Steuerung, die in der Wirtschaft als "Industrie 4.0", "Internet der Dinge" oder "Digitale Fabrik" bekannt ist.

Bislang hatten deutsche Industriekonzerne Wert darauf gelegt, dass man hierzulande führend sei bei solchen Fabrikvernetzungen. Dass Europas größter Industriekonzern nun in genau diesem Feld mit einem US-Anbieter zusammenarbeiten wird, sorgt für Unruhe, ist aber für Datenexperten nachvollziehbar. "Die Potenziale müssen riesig sein", vermutet Autoanalyst Jürgen Pieper vom Bankhaus Metzler. "Wenn man sich vor Augen hält, was in viel kleineren Organisationen durch zu lange Informationswege und ungenügende Informationsqualität verloren geht."

Globaler Marktführer im Cloud-Geschäft

Amazon ist den meisten Menschen vor allem als Einkaufsplattform bekannt, bei der sich so ungefähr alles bestellen lässt. Aber aus dem Betrieb der eigenen Handels-Server hat das Unternehmen von Jeff Bezos mittlerweile derart viel gelernt, dass Amazon zum globalen Marktführer in Sachen Cloud geworden ist, vor Google und Microsoft. Bislang liefen auf Amazon-Servern vor allem Standard-Datenbanken und Dienste. So lädt etwa die Bundespolizei Videoaufnahmen ihrer Einsätze auf Amazon-Servern hoch.

Doch der Konzern pumpt enorme Summen in Forschung und Entwicklung, insgesamt waren es im vergangenen Geschäftsjahr 22,6 Milliarden Dollar. Viel davon fließt in die Weiterentwicklung der Cloud-Dienste. Im vergangenen Jahr wuchsen die Amazon Web Services (AWS) um fast 50 Prozent. Für die Kooperation mit Volkswagen waren übrigens auch die Wurzeln von Amazon hilfreich: VW schätzt Amazons Erfahrung bei Logistik und Lieferketten.

Streaming-Dienste wie Netflix und Spotify nutzen Amazon-Systeme. Mittlerweile hat der Konzern aus Seattle aber auch Kunden aus dem industriellen Umfeld gewonnen, etwa den Sportartikelhersteller Adidas oder den Technologiekonzern Siemens. Volkswagen aber ist ein noch bedeutenderer Schlüsselkunde: Gelingt Amazon dort die angestrebte Digitalisierung, kann Amazon seine Dienste künftig ganz bewusst auch Industriefirmen anbieten. Insofern ergibt es Sinn, dass dieses Geschäft eingeleitet wurde mit einem Selfie von Amazon-Chef Bezos und VW-Chef Diess. Der hatte das auf dem Internetportal Linkedin kommentiert mit: "Freue mich, gemeinsam die Zukunft zu gestalten."

Unter den früheren VW-Chefs sei dergleichen kaum vorstellbar gewesen, sagt Branchenexperte Pieper, VW habe sich lange gegen eine Zusammenarbeit mit den Tech-Giganten aus den USA gewehrt. Doch wenn VW per Vernetzung nur zwei Prozent der Kosten spare, rede man schon von bis zu vier Milliarden Euro.

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SZ vom 28.03.2019
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