Süddeutsche Zeitung

Japan:"Goldfische haben Gefühle"

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Kingyo, Goldfische, sind in Japan nicht nur Zierlebewesen. Sie sind Zeitzeugen, Friedenssymbole, Kunstobjekte, Haustiere. Über eine umstrittene Mode.

Von Thomas Hahn

Tomoko Yoshida heiratete die Goldfische kurz nach dem Zweiten Weltkrieg. Genauer gesagt heiratete sie Seisuke Yoshida, aber das war im Grunde nichts anderes als eine Vermählung mit den Goldfischen, denn Seisuke war der Erbe jenes Goldfisch-Großhandels im Tokioter Stadtteil Hongo, den seine Familie damals schon in der sechsten Generation betrieb. Tomoko Yoshida erinnert sich, dass sie am Anfang nicht schlafen konnte im Haus der Goldfisch-Familie, weil sie hörte, wie die Goldfische in den Becken nach Sauerstoff schnappten. Irgendwann gewöhnte sie sich daran, irgendwann verliebte sie sich. Und heute, da sie als alte Frau die Tradition fortführt, würde sie nicht mehr ohne die Fische sein wollen. "Es gibt Goldfische, die ich nicht verkaufen will", sagt sie, "so sehr wachsen sie mir ans Herz."

"Yoshida Seisuke Shoten" ist der letzte Goldfischgroßhandel Tokios, und Tomoko Yoshida seine freundliche Prinzipalin, die allerdings nicht nur schöne Fische verkaufen will. Sie ist eine Botschafterin der japanischen Goldfischkultur, einer alten Mode aus der Edo-Zeit, die heute der lauten Entertainment-Welt ihren stummen Charme entgegensetzt. Kingyo, Goldfische, sind in Japan nicht irgendwelche Zierlebewesen, sie sind Zeitzeugen, Friedenssymbole, Kunstobjekte, Haustiere.

Viele lieben Hunde und Katzen, aber manche Japaner ziehen den Goldfisch vor, weil er weniger Platz braucht und trotzdem seinen eigenen Charakter hat. "Goldfische haben Gefühle", sagt Tomoko Yoshida, "sie kommen zu uns, wenn wir ihren Namen rufen." Sie hat selbst immer ein Glas mit einem Goldfisch auf ihrem Esstisch stehen. Sie betrachtet ihn, sie lässt seinen Frieden wirken. "Das ist eine schöne Entspannung."

Seit ungefähr 2000 Jahren verzieren die Menschen ihre Leben mit Goldfischen, vielleicht auch erst seit 1700, die Angaben schwanken. In China fingen sie damit an, als sie merkten, dass sich unter die silbergrauen Karpfenfische, die sie zum Verzehr züchteten, einzelne in roter Farbe mischten. Eine Laune der Natur. Den Chinesen gefiel der Farbtupfer, und sie begannen, die roten Karpfenfische zu züchten. So erschuf der Mensch den Goldfisch.

Anfang des 16. Jahrhunderts kam er nach Japan und machte dort in besagter Edo-Zeit Karriere, in jener Phase zwischen 1603 und 1868 also, in der die Shogune des Tokugawa-Clans vom heutigen Tokio aus über die längste Friedenszeit der japanischen Geschichte wachten. Das Land war geeint, abgeschottet und nach brutalen Verfolgungen vom Christentum befreit. Man lebte in beständiger Ruhe, und der Goldfisch entwickelte sich vom Luxusartikel zum Volksfisch. Unterbeschäftigte Samurai stiegen in die Zucht ein, viele Haushalte hielten Goldfische. In dieser Zeit entstand auch der Handel der Yoshidas.

"Früher hatte jede Familie einen Goldfisch"

Tomoko Yoshida steigt die Treppe zum Café "Kingyozaka", Goldfisch-Abhang, hinunter, das zum Laden gehört. Man hört ihre Geta auf der Treppe, die traditionellen Holz-Flip-Flops. Tochter Harumi Yagyu hilft ihr. Tomoko Yoshida sagt ihr Alter nicht, aber sie muss um die 90 sein. Sie setzt sich. Sie trägt einen violetten Kimono.

Dass der Gründer ihres Geschäfts 1704 starb, ist dokumentiert, deshalb ist klar, dass es etwa 350 Jahre alt ist. Alle anderen in Tokio haben aufgegeben, weil sie gute Preise für ihre Grundstücke bekamen und weil der Goldfischgroßhandel nicht leichter wird. Es gibt Konkurrenz von Einkaufszentren mit Haustierabteilungen. Und die Ansprüche des Tierschutzes sind gestiegen. "Früher hatte jede Familie einen Goldfisch, heute ist es komplizierter", sagt Tomoko Yoshida. Tochter Harumi sagt, eine Goldgrube sei der Laden nicht. "Wir machen das wegen der Tradition."

Japan und die Goldfische. Wer es ernst meint mit dieser Beziehung, möchte sie ungern reduzieren auf die Massenlieferungen für die Aquarien und Schmuckteiche dieser Welt, die einzelne Großzüchter in Asien durchaus reich machen. Fast jedes japanische Kind ist schon der Tätigkeit des Kingyosukui nachgegangen, des Goldfisch-Schöpfens, bei dem man versucht, einen jungen Goldfisch zu fangen. Ausstellungen sind dem Goldfisch gewidmet, historische Zeichnungen und Drucke zeigen ihn als Begleiter der japanischen Geschichte.

Der Maler Riusuke Fukahori erzählt sogar von einer "Goldfisch-Erlösung", und zwar so: Vor 19 Jahren hatte er eine künstlerische Krise. Er lag in seiner Wohnung und dachte ans Aufhören, als sein Blick auf das Aquarium neben seinem Bett fiel. Dort lebte der Goldfisch, den er sieben Jahre zuvor bei einem Sommerfest geschöpft hatte und um den er sich nie sehr liebevoll gekümmert hatte. Die Aura dieses vernachlässigten, trotzdem stolzen Wesens beeindruckte ihn. "Im schmutzigen Wasser war sein roter Rücken geheimnisvoll und wunderschön." Seither malt Riusuke Fukahori nur noch Goldfische. Er ist damit über Japan hinaus bekannt geworden.

Lebewesen als Kunstwerk. Darf man das?

Vielleicht hat die Liebe zum Goldfisch etwas mit der menschlichen Neigung zu tun, ab und zu Gott spielen zu wollen. Über die Züchter-Generationen hinweg ist neben dem schlanken schönen Fisch ein ganzes Kabinett aus Freaks mit Schleierflossen, Teleskopaugen oder Kugelbäuchen entstanden. Tierschützer reklamieren Qualzucht. Unter Japans Fischfreunden hingegen gilt etwa ein Ranchu mit seinem massigen Körper ohne Rückenflosse als teure Errungenschaft. Ranchus gehören auch zu den Stars in der Goldfisch-Ausstellung des Aquarium-Künstlers Hidetomo Kimura in Tokio. Unter Sphärenmusik wandern Besucher durch einen Park aus Vitrinen, in denen verschiedenste Goldfische schwimmen. Es wogt und wabert ein ästhetisches Chaos aus Fischaugen und atmenden Mündern. Der Betrachter fühlt sich irgendwie beobachtet und stumm angeschrien. Lebewesen als Kunstwerk. Darf man das?

Der Goldfischzüchter Teruya Shimada, 55, aus Yamato-Koriyama kennt solche Fragen. Er lacht darüber hinweg. Er steht gut gelaunt zwischen sprudelnden Becken und schaut auf sein lebendiges Gold. Yamato-Koriyama, Präfektur Nara, zählt zu Japans Zentren des Goldfisch-Handels und -Tourismus. Die lokalen Marketender standen deshalb zuletzt sogar vor Gericht, nachdem ein Künstler geklagt hatte, sie hätten seine Idee geklaut, Goldfische in eine Telefonzelle zu stecken. Und Shimada ist ein Motor der Goldfisch-Stadt, weil zu seiner Farm ein Goldfisch-Museum gehört.

Der Lärm der Zeit

Ein Papier-Goldfisch hängt von einem Sonnenschirm. Aus den Aquarien glotzen Wesen in Schwarz, Rot und Weiß mit gedrungenen Körpern und wallenden Flossen; die Ausstellung wirkt wie ein Karneval der Goldfische. Und im Museumsraum nebenan sieht es aus, als habe jemand nach dem letzten Erdbeben (und die gibt es hier oft) nicht aufgeräumt: Hinter den Scheiben liegen historische Schriften, Bilder und andere Kunst durcheinander. Aber Chef Shimada ist vergnügt. Viele Farmen würden schließen, weil der Nachwuchs andere Ziele habe. Aber sein Sohn mache mit. Dann zeigt er seine Geschöpfe. In einer Plastikwanne schwimmt ein Goldfisch, um dessen Augen durchsichtige Blasen liegen. "Ich glaube", sagt Teruya Shimada, "in Deutschland ist das verboten."

Das Café "Kingyozaka" ist auch ein kleines Museum mit historischen Bildern und Schmuck. Tomoko Yoshida hat es 1997 nach Seisukes Tod in einem trockengelegten Fischbecken eingerichtet. "Ich wollte, dass Erwachsene und Kinder die Kingyo-Kultur anschauen können." Jetzt hofft sie, dass der Lärm der Zeit sie nicht verdrängt. Wie geht es weiter mit dem uralten Geschäft? "Wir hoffen, dass meine Mutter immer gesund bleibt", sagt die Tochter, "sie hat die meiste Liebe für die Fische." Tomoko Yoshida lächelt. "Ich lebe für die Goldfische", sagt sie und zeigt den Gürtel ihres Kimonos. Er ist mit Goldfischen bestickt.

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Quelle:
SZ vom 28.09.2019
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