Süddeutsche Zeitung

ATP-Finale:Zverev wird zum Prügelknaben - das hat er nicht verdient

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Beim Sieg gegen Roger Federer pfeifen die Londoner Alexander Zverev wegen einer Balljungen-Aktion aus - zu Unrecht, er hat nichts falsch gemacht. Der Deutsche kann daraus aber etwas Wichtiges lernen.

Kommentar von Gerald Kleffmann

Alexander Zverev war schon oft ein Bad Boy im Tennis, also jemand, der sich daneben benimmt. Er hat oft Schläger zertrümmert und tut dies noch gelegentlich, wenn es in ihm kocht. Er kann ein Hitzkopf sein. Er legt sich mit Schiedsrichtern bei Entscheidungen an, die ihm nicht gefallen. Bei Pressekonferenzen verzieht er den Mund, wenn ihm eine Frage nicht passt. Oder verlässt gar den Raum. Das hat er in München getan, als er das Turnier dort gewonnen hatte. Seine Mimik und Gestik zeugen wahrlich nicht immer davon, dass er sein Gegenüber wirklich wertschätzt.

Das alles ist aber nur eine Seite an ihm. Er hat auch eine andere, korrekte, aufrichtige Seite. Er kann auch charmant sein. Und daher tut man ihm gerade mächtig Unrecht mit dem, was er in London durchmachen muss. Zverev wurde zum Prügelknaben. Das hat er nicht verdient.

Bei den ATP Finals wurde Zverev, dieser talentierte 1,98-Meter-Hüne aus Hamburg, der in Monte-Carlo lebt, ausgepfiffen, und er hat sich beim Gegner entschuldigt. Was war geschehen? Im Halbfinale unterbrach Zverev beim Stand von 3:4 im Tie-Break des zweiten Satzes einen Ballwechsel, weil auf der anderen Seite ein Balljunge einen Ball fallengelassen hatte. Dies irritierte ihn, und daher war es sein Recht, den Arm zu heben. Selbst wenn der Gegner offenbar im Vorteil war während dieses Ballwechsels. Der Punkt wurde wiederholt, Zverev holte den Punkt - kurz darauf siegte er, mit 7:5, 7:6 (5). Ein Pfeifkonzert brandete auf, die Platzinterviewerin Annabel Croft immerhin schritt tapfer ein und fragte die Zuschauer: "Warum pfeifen Sie? Alexander hat nur die Regeln befolgt und verdient Respekt."

Es war ein absurder Moment, denn einerseits hatte in Zverev der erste Deutsche seit Boris Becker 1996 das Finale des Jahresendturniers erreicht, er kann nun am Sonntag im Endspiel gegen Novak Djokovic (19 Uhr/Sky) den größten Erfolg seiner ohnehin schon erfolgreichen Karriere erringen, wenngleich der Serbe in zermürbend starker Form ist. Andererseits stand Zverev wie bedröppelt auf dem Platz, später machte er sich ganz klein und sagte "sorry" zum Gegner.

Zverev hatte nur leider ein Problem, gegen das er nicht ankam: An diesem Samstagnachmittag in London war sein Gegner Roger Federer. Und somit erzählte der Vorfall eine höhere Ebene. Er erzählte davon, was einen zum weltumspannenden Publikumsliebling macht. Und was einen "nur" zum respektierten Profi macht, der noch mit unliebsamen Gegenreaktionen leben muss, weil er offensichtlich anders wahrgenommen wird.

Zverev hat Fans, weltweit. Aber er genießt, das fällt auf, auch keinen großen Toleranzpuffer bei manchen Zuschauern in manchen Situationen. Wie am Samstag. Das hat mit seinen Bad-Boy-Manieren zu tun, seiner Gestik, seiner Mimik. Diese Verhaltensweisen haben ihn im Übrigen genau zu diesem starken Spieler gemacht, zur Nummer fünf der Welt. Weil er nicht zurückzieht, sondern sich wehrt und siegen will, immer.

Federer wiederum genießt einen sehr großen Toleranzpuffer. Weil er Federer ist, oder vielmehr: Roger, die Ikone, der nicht nur 20 Grand-Slam-Turniere gewann, sondern ein stilistisch edles Tennis spielt wie aus dem Lehrbuch. Darüber hinaus ist er eine smarte, über vielen Dingen stehende Überfigur, die sich aber nicht wie eine Überfigur verhält. Federer ist oft richtig nett. Das hat sich das Weltpublikum in 20 Jahren gemerkt. Bei Zverev rätseln viele noch, wie er eigentlich in Echt ist.

Zu dramatisch sollte Zverev die Pfiffe nicht nehmen, sie haben auch mit der Sonderrolle Federers zu tun. Sogar bei den French Open in Paris, wo die Franzosen selten Nicht-Franzosen bejubeln, genießt der Schweizer eine Heldenverehrung. Aber eine kleine Lektion bleibt dennoch hängen. Nicht nur Erfolge formen große Sportler. Glücklicherweise hat Zverev nun einen Trainer an der Seite, der ihm gut erklären kann, wie man mit der Bad-Boy-Rolle klarkommt. Ivan Lendl erging es früher kaum anders. Heute wird er als einer der angesehensten Vertreter seiner Zeit betrachtet.

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