Süddeutsche Zeitung

Wimbledon:Das Spiel seines Lebens

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Ekstase in einem Stadion, das für seine erdrückende Stille berühmt ist: Der Außenseiter Marcus Willis verliert in Wimbledon gegen Roger Federer - und ist trotzdem der große Gewinner dieser ersten Turniertage.

Von Gerald Kleffmann, Wimbledon

Das Innere des Medienbereichs, wo all die Interviews abgehalten werden, kann man sich wie eine riesige Wabenlandschaft vorstellen. Es gibt größere, mittelgroße und ganz winzige Waben, und am Mittwochabend ist in diesem sehr speziellen Bereich sehr Spezielles zu beobachten: In quasi jeder Wabe sitzt derselbe Mann. Ein Mann im Dauereinsatz: Marcus Willis. Er konnte deshalb vorher nur ein Bier trinken. Aus der Flasche. "Es war unglaublich", sagt er.

Das Märchen des Marcus Willis aus Slough ging also nun mit einer Niederlage gegen Roder Federer zu Ende, eine Abschlussvorführung als würde Luciano Pavarotti mit einem DSDS-Sieger in der New Yorker Met singen. "War kein typischer Mittwoch", sagt Willis dazu in seiner frischen, trockenen Art. Der 25-Jährige hat mit diesem Abschluss - und sieben Siegen zuvor - man muss es so platt sagen: die Herzen in Wimbledon erobert. Es gibt keinen größeren Star als ihn in den ersten Tagen dieser 130. Championships.

Federer lässt Willis den Vortritt

6:0, 6:3, 6:4 hat sich Roger Federer in diesem ungleichen Duell spielerisch leicht durchgesetzt, die langjährige Nummer eins, der 17-malige Grand-Slam-Champion, der siebenmalige Wimbledon-Winner gegen die Nummer 772 der Welt. Ein Mann, der vor zwei Jahren noch sehr, sehr mopsig war, der in Deutschland in der Regionalliga spielt, für den MSC Köln, der mit dem Profidasein aufhören wollte. Dann, im Februar, lernte Willis die bezaubernde Jennifer Bate kennen, das weiß man, weil sie ja gerade überall zu sehen und zu hören ist in Londons Presse und TV-Sendern, wenn auch nicht den Waben. Sie polte ihn um, bleib hier, bleib bei mir, gib nicht auf, werde nicht Coach in den USA. Das hatte er eigentlich vor.

Und nun, an diesem 29. Juni, redet er davon, dass er einen Matchplan durchaus hatte, gegen diese Ikone Federer in der zweiten Runde. "Surreal", findet Willis das alles. Ja, das ist es.

Nachdem er mit Glück sechs Matches in zwei Qualifikationsturnieren gewonnen und auch in der ersten Runde den Litauer Ricardas Berankis, 653 Weltranglistenplätze vor ihm, mit seinem linkshändigen Topspin-Slice-Schnibbeltennis besiegt hat, marschiert er also am Mittwoch auf den Center Court. Federer wird später eine herrliche Pressekonferenz voller Leichtigkeit und Bewunderung für Willis abhalten und dabei verraten, dass er Willis den Vortritt lassen wollte, unbedingt. Es sei sein Moment. Willis also schlurft als Erster raus, und der Applaus ist laut wie nach einem Matchball.

Willis gibt zu: "Ich war nervös." Wer wäre das nicht? Federer überrollt ihn mit 6:0, dann: sein erstes Spiel: 1:1. Standing Ovations, und er breitet die Arme aus, strahlt, Jennifer in der Box springt auf, Ekstase in einem Stadion, das für seine erdrückende Stille berühmt ist.

Natürlich hat Willis trotzdem keine Chance, er wehrt sich tapfer, sein Aufschlag wird präziser, Federer indes spielt "felsensicher", wie Willis meint. Wie das so ist, gegen einen Profi dieser Kategorie zu spielen? "Er gibt dir das Gefühl, dass du gar keine Zeit hast. Bei den großen Punkten kommt jeder Ball. Du kannst den Ball nicht kurz lassen oder hoch. Er ist dann weg." Ein Genuss war's nicht, so beherrscht zu werden - und doch war es für ihn der größte Genuss seines Lebens.

Federer selbst nimmt es sehr entspannt und humorvoll hin, dass der Außenseiter den lauten, hefitgen Applaus erhält. "Wahrscheinlich habe ich das letzte Mal damals '99 weniger Unterstützung erhalten, als ich eine Wildcard bekam, auf Platz acht spielte und in fünf Sätzen verlor." Der Schweizer selbst genoss aber auch die Willis-Geschichte. "So etwas gab es vor zehn Jahren noch fast bei jedem Grand Slam", erinnert er sich, und somit ist dieses umjubelte Match auch eine Art Zeitreise für ihn. Dabei hat Federer schon zwischen drei und fünf Millionen Matches bestritten, und das ist nur leicht übertrieben.

Frauen verehren Sieger, aber sie lieben Verlierer

Als Willis in der größten Wabe sitzt, dem Main Interview Room, muss er noch die wichtigsten Fragen beantworten, ehe er aufbricht in das Leben nach der Zäsur. Nein, er habe noch nicht darüber nachgedacht, Jennifer zu heiraten. Er habe kein Foto mit Ringen getwittert, nein. Ja, er verlange wohl weiterhin 30 Pfund für eine Trainerstunde, aber man müsse seinen Boss fragen. Nein, nicht jeder Mittwoch sei wie dieser. Nächsten Mittwoch? "Werde ich nicht gegen Federer spielen."

Willis hat das alles unfassbar souverän und mit sanfter Ironie ertragen, hingenommen, aufgesaugt, er wird sicher mit den Folgen klarkommen. Coventry Liga spielt er jetzt als Nächstes, in der Provinz. "Das gefällt mir. Ich genieße einfach Tennis. Es wird anders. Wirf einfach den Ball hoch und hau drauf. Denk nicht zu viel nach. Das ist das, was ich ohnehin versuche, nicht zu oft zu machen."

Es gibt dieses wunderbare Zitat, angeblich stammt es von Winston Churchill, keiner weiß es genau: Frauen verehren Sieger, aber sie lieben Verlierer. Jennifer Bate hat ihn gefunden, einen Verlierer - der in Wimbledon, beim berühmtesten Tennisturnier der Welt, allerdings zu einem sehr erstaunlichen Sieger wird.

Federer bringt es auf den Punkt: "Diese Geschichte ist Gold."

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