Süddeutsche Zeitung

Derby in der Bundesliga:Schwaben wollen Badener sein

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Stuttgarts Sportchef Sven Mislintat nimmt sich den Landesrivalen SC Freiburg zum Vorbild - es ist sein Weg, den Abstiegskampf zu bestehen und in die Zukunft aufzubrechen.

Von Christof Kneer

Die vergangenen Tage waren wirklich ungewöhnlich. Sven Mislintat, der Sportdirektor des VfB Stuttgart, hat sich auch ein bisschen gewundert, und er klopft auf Holz, wenn er über diese ungewöhnlichen Tage spricht, an denen es beim VfB ausnahmsweise keine neue Verletzung und keinen neuen Corona-Fall zu übermitteln galt. Mislintat überlegt noch mal, kann das wirklich sein? Aber ihm fällt tatsächlich keine neue Katastrophe ein.

Der Stürmer Omar Marmoush fehlt dem VfB jetzt noch, er spielt mit Ägypten beim Afrika-Cup, dazu kommen zwei, drei Verletzte aus den Außenbezirken des Kaders. Aber sonst? Der Linksverteidiger Borna Sosa meldet Genesungssignale von seiner empfindlichen Muskulatur, Sasa Kalajdzic, der ewig an der Schulter Verletzte, hat bisher keinen Rückschlag erlitten, selbst Silas Katompa Mvumpa ist nach einer Trilogie des Grauens (Kreuzbandriss/Corona/Angina) ins Training zurückgekehrt. Es kann jetzt also losgehen beim Tabellen-Siebzehnten. Wobei: Hätte es eigentlich nicht längst losgehen müssen?

Eine schlechte Nachricht gab es für die Stuttgarter in dieser Woche aber doch. Am Wochenende müssen sie beim SC Freiburg antreten, bei einem Team, gegen das sie ungefähr so häufig gewinnen wie gegen den FC Bayern, nämlich nie. Es ist der unpraktischste Gegner für jene Art von Stimmungs-Endspiel, wie es selbst der nicht zu Übertreibungen neigende Mislintat einräumt. Ein oder drei Punkte in Freiburg, und der VfB könnte frisch renoviert in die zweiwöchige Spielpause starten und sich glaubhaft einreden, die Saison ginge jetzt - mit nahezu vollständigem Kader - nochmal neu los.

Mislintat möchte eine Erwachsenenliga mit einer Talente-Elf aufmischen

Aber null Punkte in Freiburg? Dann würde man frisch ramponiert in die Pause gehen. Und man müsste ernüchtert registrieren, dass einige der Patienten zwar wieder Wettkampfsport treiben, von der gewohnten Wettkampfform aber noch mehrere Spieltage entfernt sind.

Ob der VfB in dieser Saison nur monumentales Pech hat oder sich doch etwas vorwerfen muss, ist möglicherweise eine Geschmacksfrage, die naheliegende Antwort wäre: beides. Mislintat hat den VfB auf einen spannenden Weg mit reizvoller Aussicht geführt, er möchte eine Erwachsenenliga mit einer Talente-Elf aufmischen - allerdings steigen die Risiken, die in dieser Abenteuertour eingepreist sind, mit jeder weiteren Verletzung oder Infektion. Kaum ein Stammspieler hat in dieser Saison einen seriösen Rhythmus aufnehmen können, immer war irgendwas, was am Ende zu Überforderungssymptomen bei allen Beteiligten führte - vor allem bei den Talenten, die nicht in Ruhe groß werden durften. Sie hätten sofort Leistungsträger sein müssen, und das konnten sie nicht.

"Tabellenplatz 17 macht mit fast allen Spielern was, nicht nur mit jungen", sagt Mislintat, "aber wir werden nicht jammern." Günstigerweise ist der Sportchef im Besitz eines stabilen Selbstbewusstseins, denn er hat sich eine Aufgabe gestellt, die noch größer ist als das Ländle, in dem er arbeitet. Er möchte einem Traditionsunternehmen seine Reflexe abtrainieren. "Wir werden zu keinem Zeitpunkt unter öffentlichem Druck oder unter der Schwere der Aufgabe zusammenbrechen", sagt er und meint mit "wir" sich selbst, den noch amtierenden Vorstandschef Thomas Hitzlsperger und den von ihm erfundenen Trainer Pellegrino Matarazzo. "Wichtig ist, dass wir unseren Weg und unseren Spielstil jetzt nicht verteufeln und auch nicht hektisch drei neue Spieler holen. Wir wollen bei uns bleiben und versuchen, die Situation weg zu atmen, um es mal mit einem Begriff aus dem Yoga zu sagen."

Den Trainer Matarazzo in Frage stellen? Würde Mislintat nie machen

Der VfB hat ein Jahrzehnt mit zwei Abstiegen hinter sich, in dem die Verantwortlichen mitunter schneller ausgetauscht wurden, als man einen Teller Linsen & Spätzle essen kann. Vielleicht musste erst ein Sportdirektor aus dem Ruhrgebiet kommen, um so einen Satz zu sagen: "Der ein oder andere Schwabe mag das nicht gern hören, aber wir haben von Anfang an klar gesagt: Wir wollen uns am Vorbild Freiburg orientieren." Dass Schwaben wie Badener sein wollen, war historisch bislang nicht vorgesehen, ein beliebter Schwaben-Witz besagt, dass man nichts gegen Badener habe, zumindest nichts, was hilft. Mislintat hat aber kein Problem, diese These notfalls in ganz Stuttgart zu plakatieren, er sagt: "Der Freiburger Weg ist der, den wir auch gehen wollen. Unser Ziel muss es sein, diese Kontinuität auch hier hinzubekommen."

Der Trainer Christian Streich hat in Freiburg gerade sein zehnjähriges Jubiläum gefeiert, und Mislintat verweist darauf, dass Streich "im zweiten Jahr nach dem Wiederaufstieg auch nur 15. in der Tabelle war und in seiner vierten Saison auch mal abgestiegen ist". Die Freiburger seien aber "in allen Situationen cool und klar geblieben", sagt er und deutet damit an, was er von seinem VfB erwartet. Zwar sei er selbst "gespannt, was hier passieren würde, wenn wir am 27. Spieltag immer noch auf Rang 17 stehen sollten", aber er geht schon davon aus, dass seine Vorgesetzten ihn auch dann noch für ausreichend kreditwürdig hielten.

Die Verletzten integrieren, die Stammelf allmählich ins Kicken bringen, das Jahr gut überstehen und in der neuen Saison die Freiburgisierung des Schwabenstolzes vorantreiben: Das ist Mislintats Weg, und wie alle überzeugten Menschen verschreibt er sich dem Weg mit allen Konsequenzen. Er sagt: "Sollte die Klubführung von mir mal fordern, den Trainer zu entlassen, wäre das mit mir nicht umzusetzen." Vermutlich müssten sie ihn dann mit entlassen.

"Ich sehe aktuell aber keinerlei Anzeichen, dass es so kommen könnte", sagt Mislintat. Die Schwaben wollen nämlich bald mal zeigen, wie gut sie sind, am besten schon am Wochenende, beim Vorbild aus Baden.

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