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TSV 1860 München:Seelsorge in der Löwengrube

Lesezeit: 5 min

Spiel des Jahres in Giesing: Der Drittligist empfängt Borussia Dortmund im DFB-Pokal. Trainer Michael Köllner steht mehr im Fokus als je zuvor - und muss feststellen, dass im 1860-Kosmos jedes Wort Unerwartetes auslösen kann.

Von Markus Schäflein, München

Bevor Michael Köllner eine Ausbildung zum Zahnarzthelfer absolvierte und dann Fußballtrainer wurde, wollte er Pfarrer werden. Es beeindruckte ihn, wie die Geistlichen auf der Kanzel standen und vor den Menschen ihre Meinung sagten. Nun arbeitet er seit November 2019 beim Drittligisten TSV 1860 München und predigt zur Löwen-Gemeinde - er musste allerdings in den vergangenen Wochen feststellen, dass es sich nicht nur um eine große, sondern auch um eine überaus heterogene Gemeinde mit Hang zum Zank handelt. Und dass jeder Satz etwas auslösen kann, das vielleicht gar nicht beabsichtigt war.

An diesem Freitagabend tritt der TSV 1860 in der ersten DFB-Pokal-Runde gegen Borussia Dortmund an, es ist ein Höhepunkt der jüngeren Vereinsgeschichte seit dem Zwangsabstieg des ehemaligen Zweit- und sehr ehemaligen Erstligisten in die Regionalliga Bayern 2017. Der Drittliga-Aufstieg 2018, die DFB-Pokal-Erfolge gegen die Zweitligisten Darmstadt und Schalke in der vergangenen Saison, das waren auch schon Höhepunkte im je nach Sichtweise altehrwürdigen oder auch nur alten Städtischen Stadion an der Grünwalder Straße, in das die Löwen 2017 zurückkehrten. Aber Dortmund, zur besten Sendezeit live im ZDF, das ist schon noch mal was anderes.

Köllner muss sich fühlen wie ein Stadtteilpfarrer, dessen renovierungsbedürftiges, aber stets voll besetztes Kirchlein für die TV-Christmette ausgesucht wurde. Zudem hat sich der TSV 1860 klar dazu bekannt, in dieser Saison unbedingt in die zweite Liga zurückkehren zu wollen. Köllner, 52, steht mehr im Fokus als je zuvor in den fast drei Jahren, in denen der frühere Nürnberger Aufstiegstrainer in Giesing arbeitet.

Und er steht, wie er selbst sagt, ja gerne im Fokus. Bei Sechzig hören ihm mehr Leute zu, als wenn er Seelsorger in seiner oberpfälzischen Heimat oder Trainer in Sandhausen wäre, auch deshalb arbeitet er gerne bei Traditionsvereinen. Aber je mehr Leute zuhören, desto mehr Leute werden auch Kritik äußern. Bei den großen politischen Themen, etwa Köllners streitbaren oder missverständlichen Aussagen zu Corona und - anlässlich eines Testspiels gegen Newcastle - zur Menschenrechtslage in Saudi-Arabien. Aber vor allem bei den (im Löwen-Kosmos ebenfalls großen) Themen der Vereinspolitik.

Und diese Vereinspolitik wird bei Sechzig seit mehr als zehn Jahren geprägt vom Zusammen- oder Gegeneinanderspiel der Gesellschafter, also des Stammvereins und der Investorenseite um Hasan Ismaik. Seit dem Absturz 2017 haben die öffentlichen Scharmützel deutlich nachgelassen, die Richtlinie des Vereinspräsidenten Robert Reisinger ist ja klar festgelegt: Die Profifußball-Gesellschaft nimmt keine neuen Darlehen mehr bei Ismaik auf. Und Ismaik meldet sich auch nicht mehr öffentlich wie früher, dass er gerne welche geben würde.

Aber es gibt Nebenschauplätze wie die Merchandising GmbH, geführt von Ismaiks Münchner Statthalter Anthony Power. Sie gehört zu 100 Prozent Ismaik und hält die kommerziellen Exklusivrechte an Logos und Slogans - aber auch der Verein vertreibt Fanartikel, zu gemeinnützigen Zwecken. Und unlängst kopierte Ismaiks Merchandising GmbH einfach ein Design des Vereins, um überaus ähnliche T-Shirts und Hoodies etwas günstiger anzubieten. Zudem ließ er sich das alte Löwenlogo aus den Sechzigerjahren schützen, das die Ultras benutzen.

Köllners Vorgänger Daniel Bierofka wurde im Machtkampf zerrieben

Der Protest in der Fanszene war riesig, und da traf es sich dann ungünstig, dass Köllner in einer Pressekonferenz Power für dessen Mitwirkung an den Sommertransfers lobte. Plötzlich wurde der Trainer der Investorenseite zugerechnet, obwohl er sich nur bedanken wollte. "Das Stillhalten des e.V. ist die eine Sache - öffentliche Lobeshymnen für Anthony Power von Trainer Michael Köllner sind das andere", schrieb der Fanblog sechzger.de. Auf einer Fanveranstaltung im Trainingslager machte Köllner dann klar, was ihn der Autor 100 Mal könne - das kam, auch wegen der Wortwahl, bei vielen Fans erneut schlecht an.

Die ganze Sache weckte Erinnerungen an Köllners Vorgänger Daniel Bierofka, der bei Sechzig auch daran scheiterte, dass er sich im Gesellschafterzwist positionierte und im Machtkampf zerrieben wurde. So sehr, dass Vereinspräsident Reisinger Köllner im Münchner Merkur den Rat gab: "Reden ist Silber, Schweigen ist Gold." Köllner könne eine Ära prägen, wenn er sich "auf den Sport" konzentriere. Aber auch zum Sport kam die Redseligkeit des Trainers nicht bei allen gut an. In einem Doppelinterview der Bild-Zeitung ("1860-Trainer Köllner und Partnerin privat wie nie") sagte Köllners Lebensgefährtin Petra Freitag: "Diese Saison klappt es. Die Löwen steigen direkt auf." Und sie verriet, dass sie bereits auf der Suche nach geeigneten Veranstaltungsorten für die Aufstiegsfeier sei. Und Köllner sagte: "Na dann!" Manche fanden, so baue man unnötigen Druck auf.

Investor Ismaik wünscht sich via Facebook eine neue Arena - während die Stadt den Umbau des Grünwalder Stadions plant

Die Hoffnung auf den Aufstieg ist allerdings nicht nur bei Petra Freitag groß, und sie wurde am ersten Drittliga-Spieltag mit einem 4:3-Erfolg beim stark besetzten Absteiger Dresden untermauert. Der Kader ist im Vergleich zur Vorsaison nicht nennenswert teurer geworden, auch wenn manche Köllners Lob für die Investorenseite so interpretierten - er dankte allerdings bloß dafür, dass notwendige Unterschriften zügiger und zuverlässiger geleistet wurden als in den vergangenen Jahren. In erster Linie ist der Kader ausgeglichener als zuvor, weil einige Spitzenverdiener gingen und die Gehaltsstruktur etwas geändert wurde.

So war es möglich, neben herausragenden Drittliga-Akteuren wie dem Standardspezialisten Martin Kobylanski und dem kopfballstarken Innenverteidiger Jesper Verlaat auch Spieler zu verpflichten, die sich noch entwickeln können und mehr taktische Flexibilität ermöglichen - wie Mittelstürmer Fynn Lakenmacher, 22, vom Absteiger TSV Havelse, der in Dresden in der Startelf stand. "Wir haben jetzt mehr Möglichkeiten vorne", sagt Köllner, "in der Rückrunde war alles sehr stark auf Marcel Bär und Stefan Lex zugeschnitten, jetzt haben wir weitere Neuner dazu gewonnen, die auch ihr Handwerk verstehen." Und die Mannschaft habe jetzt "mehr Geschwindigkeit"; dass sie "in manchen Zonen vom Tempo her nicht gut genug" war, sei ihr gerade in den Spitzenspielen der vergangenen Saison "auf die Füße gefallen".

Vor jenem Spiel in Dresden hatte sich mal wieder Ismaik auf Facebook zu Wort gemeldet. Das tut er oft, meist mit eher belanglosem Lob oder Ansporn für die Mannschaft, aber diesmal äußerte er sich zur Spielstätte. Im Stadion an der Grünwalder Stadion, dem Pilgerort vieler Löwenfans, könne der Verein "nicht wachsen - weder finanziell noch sportlich", teilte Ismaik mit. "Ich wünsche mir, dass die Vereinsseite nach fünf Jahren endlich erkennt, dass wir für unsere gemeinsamen Ziele einen anderen Stadionweg wählen müssen." Und das, während die Stadt München gerade einen kostspieligen Umbau plant, um das Stadion zweitligatauglich zu machen. Der Spielort ist ja noch so eine Glaubensfrage, die die Gemeinde spaltet. Und natürlich wurde Köllner wieder auf die für dieses Spiel geringe Kapazität angesprochen: "Ob jetzt einem das Stadion passt oder nicht, ich kann's nicht ändern, ich habe kein zweites in meiner Hosentasche." Das Grünwalder sei "unsere Heimat", sagte Köllner, wobei der Zusatz "aktuell in dieser Saison" auch schon wieder nicht allen gefallen wird.

Statt eines eigenen Stadions plant der e.V. übrigens gerade den Bau einer Turnhalle für den Breitensport - auf dem Gelände der Profifußball-KGaA. Im Erbpachtvertrag mit der Stadt sei die Errichtung einer Halle verpflichtend festgelegt, argumentieren die Vereinsvertreter. Die KGaA, an der Ismaik 60 Prozent hält, könnte dann weniger Pacht zahlen, würde aber auch einen Teil ihres Geländes verlieren. Auch hier droht ein Streit der Gesellschafter. Es gibt eben unendlich viele Themen bei Sechzig, zu denen Köllner ein Schweigegelübde ablegen muss. Zum Glück geht es gegen den BVB mal wieder mindestens 90 Minuten lang um sein Fachgebiet: Fußball. "Wettet nicht auf Dortmund, denn dann gewinnt ihr nichts", empfiehlt Köllner. "Natürlich können die alles besser als wir. Aber wenn es gar keine Chance gäbe, würde ich den Job wechseln."

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