Süddeutsche Zeitung

Special Olympics:17 Sekunden zu schnell für Gold

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Wer bei den Special Olympics World Games in Berlin zu große Leistungssprünge macht, wird bestraft. Zu spüren bekommt das die Leichtathletin Leonie Spehr - nach dem Rennen ihres Lebens.

Von Korbinian Eisenberger, Berlin

Sie lief so schnell wie nie zuvor, machte das Rennen ihres Lebens - und wurde am Ende dafür bestraft. Hinter der Ziellinie unweit des Berliner Olympiastadions wähnte sich Leonie Spehr aus Rellingen in Schleswig-Holstein einer Medaille sicher, schließlich war sie als Dritte angekommen. Drei Minuten und 25 Sekunden hatte sie für den 800-Meter-Lauf benötigt und damit ihre persönliche Bestleistung um fast eine Minute unterboten. Doch was wie eine sportliche Sensation klingt, entpuppte sich für die 15-Jährige als Enttäuschung.

Tatsächlich bekamen am Ende nicht die drei Schnellsten dieses Laufes die Medaillen überreicht, sondern die Viert-, Fünft- und Sechstplatzierte. Das Trio der drei Besten wurde von den Schiedsrichtern disqualifiziert, und zwar nicht wegen eines Fehlstarts oder Unsportlichkeiten - sondern wegen der aus Veranstaltersicht zu hohen Leistungssteigerung.

Um die Angelegenheit zu verstehen, hilft ein Blick ins Regelwerk der Berliner Weltspiele für Athleten mit geistiger oder mehrfacher Behinderung. Im Schwimmen und in der Leichtathletik wendet der Weltverband erstmals ein neues System an. Demnach müssen die Athleten vor ihren Finalläufen um die Medaillen in sogenannten Klassifizierungswettkämpfen antreten. Die dort gezeigte Leistung wird herangezogen, um die Athleten einer achtköpfigen Leistungsgruppe zuzuteilen. So wurden etwa bei den 800-Meter-Läufen der 64 Männer acht unterschiedlich starke Achtergruppen gebildet, in denen jeweils drei Medaillen vergeben werden.

Die Special Olympics weichen damit relativ elegant der hochkomplexen Frage aus, inwiefern Behinderungen und Einschränkungen für die sportliche Leistungsfähigkeit vergleichbar sein könnten. Aber auch so entstehen kleine Tücken: Um die Medaillenchance etwa für einen Leichtathleten zu erhöhen, könnte ein Trainer nachhelfen, indem er die tatsächlich Leistungsfähigkeit eines Athleten unterschlägt. Durch einen bewusst langsamen Lauf in der Klassifizierungsrunde würde der Athlet niedriger eingruppiert. Um dieses Risiko der Wettbewerbsverzerrung zu minimieren, sieht die Regel vor, dass Leistungssteigerungen von mehr als 15 Prozent im Vergleich zum vom Trainer angegebenen persönlichen Rekord zur Disqualifikation führen. Leonie Spehr hatte sich etwa um 21 Prozent verbessert. Wäre sie 17 Sekunden langsamer gelaufen, hätte sie die Goldmedaille gewonnen - weil ihre beiden Vorderleute ja bereits disqualifiziert waren.

Der Leiter der deutschen Delegation kritisiert das System

Tatsächlich ist Spehrs Disqualifikation wegen zu guter Leistung ein Fall von vielen. Allein in der Leichtathletik kam es in Berlin in den ersten Tagen zu einer dreistelligen Zahl an Disqualifikationen wegen sogenannter Überperformance. Die Rekordzeit jedes Athleten wird vor dem Turnier von den Trainern eingereicht. "Wenn eine Athletin hier vor Ort die beste Leistung ihres Lebens bringt, die von der Trainerin so nicht vorherzusehen ist, dann ist sie sofort disqualifiziert", kritisiert Tom Hauthal, der Leiter der deutschen Delegation auf Nachfrage. "Das ist ein System, das es aus unserer Sicht nicht braucht." Durch den Modus mit Viertelfinale, Halbfinale und Finale gebe es ausreichend Gelegenheiten, die Sportler "anhand der Zeiten, die sie hier vor Ort laufen" einzuteilen statt - wie aktuell - anhand der vorherigen Bestleistung.

Die Einteilung in Achtergruppen in allen 26 Sportarten und Unterdisziplinen hat zudem zur Folge, dass bei den Berliner Spielen eine Flut an Medaillen entsteht. Von den insgesamt knapp 7000 Athleten gewinnt im Schnitt fast jeder zweite eine Medaille (auch weil manche in mehreren Disziplinen und Wertungen antreten). Anders als bei den Weltspielen in Abu Dhabi vor vier Jahren führen die Veranstalter bei diesen Spielen nun auch angesichts der vielen Klassen keinen Medaillenspiegel. 2019 waren 229 deutsche Sportler am Start, die mit 118 Medaillen zurückkehrten, davon 41 goldene, 47 silberne und 30 bronzene. Nun, bei den Heimspielen, treten 413 deutsche Athleten an.

Eine davon ist Leonie Spehr. Ihr und ihren beiden noch schnelleren Kontrahentinnen schien die Regelproblematik im Moment des Rennens nicht bewusst gewesen zu sein. Am Ende wurden sie dennoch ausgezeichnet, als disqualifizierte Athletinnen erhielten sie bei der Siegerehrung je eine Teilnehmerschleife und eine Plakette - die zumindest einer Medaille ähnelt. Und über 1500 Meter und vier Mal 400 Meter hat zumindest Leonie Spehr noch zwei Chancen auf echtes Edelmetall.

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