Süddeutsche Zeitung

Meisterschaft in der Serie A:Finalissima mit erhöhtem Herzschlag

Lesezeit: 5 min

Mailand ist zur Kapitale des Calcio geworden: Milan und Inter machen den Titel unter sich aus, mit Vorteilen für den "Diavolo". Die neue Anarchie spaltet die Italiener in begeisterte Romantiker und entgeisterte Rationalisten.

Von Oliver Meiler, Rom

Mailand neigt nicht zur Bescheidenheit, und das ist auch verständlich. Die Stadt ist auf fast allen Gebieten italienische Spitze, sie zieht das Land wirtschaftlich wie eine Lokomotive hinter sich her, in diesem Fall passt das ausgelatschte Bild ziemlich gut. Die Mode sitzt dort, die Börse, die Banken, die meisten Start-ups, die großen Medien und die Werbefirmen. Nirgends in Italien verdienen die Menschen im Durchschnitt mehr als hier, das zeigen auch die jüngsten Zahlen. Mailand ist der Zeit immer etwas voraus, wenigstens in Italien.

Nur im Fußball musste Mailand in jüngerer und nicht so junger Vergangenheit die Vormacht oft voller Schmach an das kleinere Turin und den dortigen Serienmeister Juventus abtreten. Rom und Neapel, muss dazu noch gesagt sein, spielen in diesem Duell des Calcio fast keine Rolle. Napoli war zuletzt Meister mit Diego Armando Maradona, die Roma mit einem jungen Francesco Totti. Nun aber ist Mailand zurück, und da die Associazione Calcio Milan und der FC Internazionale bereits zum zweiten Mal in Folge den Meistertitel unter sich ausmachen, in einem "Derby Scudetto", wie die Mailänder Gazzetta dello Sport es nennt, dämmert schon leise die Hoffnung auf eine längere Herrschaft.

Zwei Punkte liegt Tabellenführer Milan vor Inter, zwei Spieltage bleiben noch. Eine Finalissima mit erhöhtem Herzschlag und Milan als Favoriten. Die Zeitungen schreiben: 70 zu 30 Prozent. Stehen die Vereine am Ende nämlich punktgleich da, wäre der Diavolo, der rotschwarze Teufel, italienischer Meister, dank der besseren Leistungen in den direkten Begegnungen. Milan allerdings hat das etwas schwierigere Restprogramm, es muss noch gegen Atalanta und Sassuolo antreten, während Inter mit Cagliari und Sampdoria eigentlich keine Probleme bekommen sollte - eigentlich: Die ganze laufende Meisterschaft ließe sich an diesem Wort rückabwickeln.

Alles war diesmal in der Serie A anders als sonst - und doch liegen nun Inter und Milan vorne

Eigentlich hätte ja niemand für möglich gehalten, dass Juventus sich einmal dermaßen desolat aufführen würde, fast eine volle Saison lang, obschon die Agnellis ihren Meistertrainer Massimiliano Allegri zurückgeholt hatten, damit gerade das nicht passiert. Juve ist nur Vierter, am Mittwoch haben die Turiner auch noch das Pokalfinale verloren - gegen Inter, 2:4. Und obwohl die Coppa Italia nicht viel wert ist: Man hätte sich gerne an ihr aufgerichtet. Eigentlich war auch nicht absehbar, dass Napoli zum Schluss so dramatisch einbricht, nachdem es nahe dran war, das umbenannte Stadion, das "Stadio Maradona", gebührend zu beehren. Eigentlich waren auch Milan und Inter selten an einem Stück so überzeugend, dass sie sich als Meister aufdrängten. Eigentlich war alles anders als sonst.

Es gibt dazu zwei Denkschulen, gewissermaßen eine antikapitalistisch romantische und eine rational nüchterne. Die Romantiker sind Freunde der wilden Unterhaltung, sie finden: Was wollen wir mehr als eine völlig offene Meisterschaft, in der - gar nicht so verrückt - auch mal wieder ein Underdog hätte triumphieren können? Die Rationalisten dagegen sehen in der Ergebnisanarchie der vergangenen Monate einen weiteren Beleg dafür, dass der italienische Fußball in die Bedeutungslosigkeit abdriftet: Die Nationalmannschaft, immerhin Europameister, verpasst die WM in Katar, und wieder schaffte es kein italienischer Verein ins Viertelfinale der Champions League.

Das Lager der Romantiker ist gerade etwas größer, zumal in Mailand. Seit die Stadien wieder voll sein dürfen, ist das Giuseppe Meazza in San Siro jedes Mal voll, das hatte man seit vielen Jahren nicht mehr erlebt. Natürlich rührt das auch daher, dass die Menschen nach all den Einschränkungen während der Pandemie Liveveranstaltungen in großer Gesellschaft wie eine Epiphanie erleben, wie eine Erlösung.

Die Gazzetta dello Sport denkt sich jeden Tag neue Formate in aufwändiger Aufmachung aus, um der Aufregung einigermaßen gerecht zu werden. Mal veranstaltet sie ein Quiz zum Wissen der Fans, mal stilisiert sie das Duell zum Boxkampf und dekliniert dafür alle Schläge, verbunden mit den passenden Spielern resp. Schlägern. Mal befragt das Blatt Legenden nach ihren Prognosen, mal ehemalige Trainer beider Vereine, die natürlich die Fans eher nicht so gerne mit Bodenständigkeit behelligen. Auch wenn sie zuweilen berechtigt wäre.

Die Chinesen holten Inzaghi für Conte, der war mit einem Drittel des Gehalts zufrieden

In der Stadt hielt man Inter - eigentlich! - für favorisiert. Als aktueller Meister mit Meistermentalität. Trotz der gewichtigen Abgänge von Romelu Lukaku und Achraf Hakimi, trotz der finanziellen Nöte von Suning, dem chinesischen Konzern, dem der Verein gehört. Die waren so groß, dass Meistertrainer Antonio Conte fand, es lohne sich nicht, da weiterzumachen: ohne hohe Ambitionen, ohne Geld für passendes Personal. Suning nahm einen Kredit auf, befahl der Geschäftsführung eine totale Disziplin bei der Buchhaltung - und stellte Simone Inzaghi als Coach an, der sich mit einem Drittel von Contes Gehalt zufriedengab.

Und dieser Inzaghi, der kleine Bruder von Pippo und früher lange Jahre Trainer von Lazio Rom, machte ohne Aufheben und ohne schrille Töne einen sehr passablen Job. Im Grunde bis zuletzt. Dann aber verlor Inter zunächst das Mailänder Stadtderby der Rückrunde, ein moralischer Knicks mit Nachwirkung, und später auch noch das Nachholspiel gegen Bologna. Der Schwung war weg, sogar das Schwanengeheul aus längst vergangen gewähnten Zeiten klang wieder an: "Pazza Inter", verrücktes Inter.

Milan dagegen wurde von Beginn an unterschätzt. Das Team erschien unausgewogen, ein fast zufällig zusammengewürfelter Haufen mit schier groteskem Altersgefälle. Der zuletzt oftmals unpässliche Veteran Zlatan Ibrahimovic, 40, sitzt da auf der Bank mit Herrschaften, die seine Söhne sein könnten. Insgesamt aber ist Milan von allen Tabellenführern der fünf größten Ligen Europas das jüngste Team. Trainer Stefano Pioli, ein ruhiger und rundum beliebter Mann, den sie in Italien gerne mit Carlo Ancelotti vergleichen, hat diese besonders gepflegte Art, mit Menschen umzugehen, sodass aus diesem Haufen ein leichtes und leicht variables Team wurde - kein überragendes, aber in diesem Jahr könnte das ausreichen.

Nun trägt Tonali das Haar kürzer, damit man ihn nicht ständig mit Pirlo vergleicht

Das "Herz des Teufels", wie der Mailänder Corriere della Sera ihn nennt, ist der eben erst 22 Jahre alt gewordene Mittelfeldspieler Sandro Tonali, vielleicht der beste Spieler der Spielzeit überhaupt, zumindest der überraschendste. Bei Milan nennen sie ihn noch immer "Sandrino", kleiner Sandro, als wäre er ein Junge. Er hat etwas von Andrea Pirlo, wenn er aus der Tiefe Regie führt, seine Hartnäckigkeit gegen den Ball erinnert eher an Rino Gattuso.

Als Kind absolvierte Sandro Tonali aus Lodi bei Mailand einmal ein Probetraining bei Milan, seinem Lieblingsverein. Ohne Erfolg. Vor zwei Jahren, als er bei Brescia in der Serie B spielte, meldete sich Inter - und Tonali war nahe dran, seine Farben zu betrügen. Doch dann meldete sich auch Milan. Das erste Jahr war schwierig, der Sprung aus der Provinz auf die große Bühne, er gelingt auch den Prädestinierten nicht immer auf Anhieb. Tonali bat um eine Gehaltsreduktion, von 1,8 Millionen Euro auf 1,2 Millionen, um auch ganz sicher zu sein, dass man ihn nicht wieder zurück in die Provinz schickt.

Und nun ist Tonali auffällig muskulöser als zuvor, das Haar trägt er kürzer, wahrscheinlich weil er mit längerem Haar Pirlo auch äußerlich ähnlich sah und die ständigen Vergleiche satt hatte. Vor allem aber beweist er, dass er dem Niveau gewachsen ist, dass er es immer öfter auch zu heben vermag. Im Sommer werden sie sein Gehalt sicher wieder erhöhen - deutlich, Tonali ist jetzt die Fahne des Vereins.

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