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Carlsen vs. Nepomnjaschtschi:Schach-WM? Von wegen langweilig

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Die Weltmeisterschaft zwischen Magnus Carlsen und Jan Nepomnjaschtschi inklusive Rekordmatch ist ein Plädoyer für das aktuelle WM-Format und zeigt: Das klassische Schach ist kein bisschen überholt.

Kommentar von Johannes Aumüller

Ein Blick auf die Zahlen reicht, um das Außergewöhnliche dieser Partie zu beschreiben. Fast acht Stunden lang saßen sich Magnus Carlsen und Jan Nepomnjaschtschi am Freitagabend bei der Schach-WM in Dubai gegenüber. 136 Züge lang dauerte es bis zum Sieg des Norwegers - zwölf mehr als beim bisherigen Rekordwert für WM-Partien, aufgestellt 1978. Das war in etwa so, als würde Rafael Nadal das Finale der French Open gegen Novak Djokovic mit einem 30:28 im fünften Satz für sich entscheiden.

Wenn es irgendwann einmal darum geht, eine Partie zu wählen, die beispielhaft für das Wirken von Weltmeister Carlsen steht, hat diese Partie gute Chancen. Wie beide Spieler von Anfang an komplizierte Stellungen anstrebten; wie sie vor dem 40. Zug in Zeitnot gerieten und jeder bei einer Ungenauigkeit des Gegners eine eigene Chance verpasste; und wie Carlsen gegen Ende seine Fähigkeit ausspielte, den Gegenüber so lange zu quälen, bis er irgendwann einen unscheinbaren Fehler macht und sich die Statik zu Gunsten des Norwegers verschiebt. Keine perfekte Partie, aber eine epische für die Geschichtsbücher - und eine, die wohl den psychologischen Grundstein legte für seine Titelverteidigung.

Viele kritisieren das aktuelle WM-Format, weil es so viele Remis gibt

Weil Carlsen nach seinem Sieg im Rekordmatch am Sonntag noch einmal nachgelegt hat, geht er nun mit zwei Punkten Vorsprung in die letzten sechs Partien dieser WM. Die Titelverteidigung dürfte ihm kaum noch zu nehmen sein. Doch dieser Zweikampf in Dubai ist für den Schachsport nicht nur wichtig mit Blick auf die Frage, wer sich künftig Weltmeister nennen darf. Sondern weil er zugleich zeigt, wie ansprechend das traditionelle und vielfach kritisierte WM-Format weiterhin sein kann.

Dieses war zuletzt als ein bisschen langweilig empfunden worden, weil so viele Partien mit einem Remis geendet hatten. Eine Debatte über den drohenden "Remis-Tod" des Schachs gab es zwar schon in den Zwanzigerjahren des vorigen Jahrhunderts, aber so weit verbreitet wie im Moment war sie noch nie. Ein entscheidender Grund dafür sind die Hochleistungsrechner, die die Spieler inzwischen für die Vorbereitung und ihre Strategien einsetzen. Viele Pfade sind ausanalysiert, wie das im Fachjargon heißt.

Bei zirka 60 Prozent liegt die Remisquote insgesamt, bei den jüngsten Weltmeisterschaften war sie sogar noch ein bisschen höher: Als Carlsen seinen Titel 2016 gegen Sergej Karjakin verteidigten musste, gab es in zehn von zwölf Partien ein Unentschieden. Zwei Jahre später, im Duell mit Fabiano Caruana, war dies sogar in allen zwölf Partien der Fall. Die Zweikämpfe wurden dann jeweils im Schnellschach entschieden.

Manch einer drängt nun bloß auf Korrekturen am Modus. Die revolutionären Kräfte aber wollen das klassische Schach gleich ganz abschaffen und auf 960-Schach umschwenken. Dort wird die Grundstellung der Figuren vorher ausgelost, entsprechend weniger können sich die Spieler am Computer vorbereiten.

Doch Carlsen und Nepomnjaschtschi haben nun gezeigt, dass es auch so geht. Zwar endeten auch ihre ersten fünf Partien mit einem Remis. Aber schon in denen gab es viele spannende Elemente und risikoreiche Versuche. Und das epische Rekordmatch war nur die Krönung dieser offensiven Herangehensweise.

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