Süddeutsche Zeitung

Champions League:Brunftschreie im Bernabéu

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Von Jonas Beckenkamp

Der königliche Katzenjammer war in dieser Nacht so nah wie selten zuvor, er lugte hinein ins Estadio Santiago Bernabéu von Madrid. Und wer weiß, was passiert wäre, wenn er tatsächlich seine volle Kraft entfaltet hätte in diesem Hinspiel im Achtelfinale der Champions League. Leiden und Lamentieren können sie in Madrid ja mindestens ebenso gut wie Siege zelebrieren, doch am Ende bot dieser Abend gegen Paris Saint-Germain eben doch noch einen Ausreißer ins klassische Helden-Narrativ. Real stürzt nicht, es wankt vielleicht - aber bis es kippt, muss schon mehr passieren als dieses Mal beim 3:1 (1:1) im Schickimicki-Kick gegen die Millionenelf aus Frankreich.

Es scheint, als bräuchte es in Madrid gerade solche Spiele, die ja der "Madridismo" schon so oft hervor gebracht hat. Wendungen, wie jene zwischen den Minuten 83 und 90, als wieder einmal die Erkenntnis heranwuchs: "Real Madrid kommt immer zurück." So formulierte es tags danach die Zeitung Marca, deren Beobachtern bis zu jener Endphase der Partie sicher ganz andere Szenarien vorschwebten. Real Madrid war ja dem Untergang entgegengetaumelt, es stand 1:1 gegen eine raffinierte Pariser Mannschaft, die bis dahin gespielt hatte wie ein Musketierkommando.

"Wir haben ein großes Spiel gezeigt, aber mit falschem Ausgang. So ein Ergebnis haben wir nicht verdient," fand der Pariser Trainer Unay Emery, ein Spanier, der auch in seinem elften Versuch keinen Erfolg im Bernabeu verbuchen konnte.

Zum Stadion Reals, dieser Feuerbühne des Fußballs, gehört eben auch das mystische Wiederauferstehen, es ist tief eingebrannt in die DNA dieses Klubs. Und zu Real gehört ein gewisser Cristiano Ronaldo, der in der Liga kriseln mag wie er will - wenn es drauf ankommt, schießt er halt zwei Tore gegen Paris und "markiert damit sein Territorium", wie es das Sportmagazin As zusammenfasste. Es waren Ronaldos Treffer Nummer 100 und 101 in der Königsklasse für Real. Im Duell der Geldspeicher, dem "Business-Classico" des europäischen Fußballs, war das auch bitter nötig, denn die Pariser waren gekommen, um mitzuspielen.

Sie waren in Führung gegangen, als diese aufregende Klopperei ihren Charme entwickelte. Ein Fußballspiel fast ohne Mittelfeld, in dem zwei hochgetunte Offensiven sich gegenseitig Hiebe verpassten. Den ersten setzten die Gäste, als Adrien Rabiot in der 33. Minute mit einer Szene die ganze Anfälligkeit Reals in dieser Saison offenlegte. 180-Millionen-Stürmer Kylian Mbappé hatte von rechts geflankt, Kollege Cavani den Ball geschickt durchgelassen und nach einem Zweikampf zwischen Nacho und Neymar flipperte der Ball vor den Fuß von Rabiot. Die königliche Defensive um Sergio Ramos hatte einstweilen Siesta gehalten.

Und so brauchte es einen der seltenen Antritte von Toni Kroos in den Sechzehner, um die Aufholjagd der Madrilenen anzufeuern. Ein Schulter-Zufper des Argentiniers Lo Celos ließ den Deutschen zu Boden purzeln, es gab Elfmeter (den Ronaldo mit dem Pausenpfiff verwandelte) und reichlich Zündstoff in der Nachbetrachtung. "Der Schiedsrichter hat uns sicher nicht geholfen", echauffierte sich Emery, "für mich war es vor dem 1:1 kein Elfmeter und später gab es ein Handspiel von Ramos." Dass dieses nicht geahndet wurde, mag ein Grund dafür gewesen sein, dass diese Partie kippte. Ein anderer waren ein paar Kniffe von Real-Coach Zinedine Zidane.

Der Franzose, dessen Standing trotz zweier Champions-League-Siege aktuell nachhaltig geschwächt ist, feierte mit seiner Aufstellung einen kleinen Trainersieg. "Meisterhaft" fanden die Kommentoren von Marca letztlich seine risikoreiche Entscheidung, Gareth Bale zunächt auf die Bank zu setzen und stattdessen im Mittelfeld auf den Wuselmann Isco zu setzen. Isco brachte in der ersten Hälfte alle seine 38 Pässe an den Mann, und als seine Wirksamkeit langsam nachließ, verursachte der für ihn eingewechselte Bale solchen Schrecken in der Pariser Defensive, dass eine kollektive Therapiesitzung nötig gewesen wäre.

Zidane bewies mit seinem Händchen nicht zum ersten Mal gutes Gespür, zumal er das Spiel mit der Einwechslung des Überschallflitzers Marco Asensio in der 79. Minute endgültig zu seinen Gunsten beeinflusste. Der junge Mallorquiner zeigte wie schon im vergangenen Jahr gegen die Bayern, dass er Fußballspiele auch als Sprintdisziplin begreift. Seine Flanke in der 83. Minute erreichte wieder Ronaldo, der mit dem Knie das 2:1 erzielte und im Bernabeu Brunftschreie bis ins All auslöste. Auch zu Marcelos 3:1 (86.) lieferte der "skandalös starke" ( Marca) Asensio die Vorlage. Es war der Moment, als Paris endgültig in sich zusammensackte wie ein ausgeknockter Schwergewichtler.

Trainer Emery haderte hinterher mit dem Durchhaltevermögen seiner Leute: "Die Erklärung ist einfach: Man muss eben über 90 Minuten da sein. Am Ende waren es Details." Noch tiefer saß die Frustration offenbar bei Mittelfeldspieler Rabiot, der ein großes Problem der Pariser ansprach: "Es ist leicht, acht Tore gegen Dijon zu schießen, aber was wirklich zählt, sind solche Spiele." Saint-Germain mag in Frankreich mit seinen katarischen Millionen die Liga dominieren, doch in der Champions League erlebt man Jahr für Jahr dasselbe: Zusammenbrüche wie diesmal - oder wie vergangene Saison beim 1:6-Trauma in Barcelona (nach einem 4:0 im Hinspiel).

"Emery und seine Spieler dachten, sie hätten ihre Lektion aus dem 1:6 in Barcelona gelernt", urteilte das französische Sportmagazin L'Équipe, "aber jetzt zeigt sich: Der Lernprozess ist längst nicht abgeschlossen." Und so blieben die Schlussworte nach dieser x-ten Madrider "remontada", dem Comeback der Comebacks, zwei deutschen Beteiligten überlassen: Julian Draxler, der kurz vor Ende bei den Parisern eingewechselt wurde, klagte über eine "sehr, sehr unnötige" Niederlage, weil man doch alles im Griff zu haben schien.

Während Toni Kroos mit Blick aufs Rückspiel tiefenentspannt wie immer formulierte: "Ich sehe nicht den großen Druck für uns. Wir werden alles tun, die Champions League wieder zu gewinnen, aber wir haben sie zwei Mal in Folge gewonnen." Es gebe definitiv Mannschaften "die mehr Druck haben, gegen eine haben wir heute gespielt."

Saint-Germain bleibt nun trotz aller Investitionen in Spieler wie Neymar (222 Millionen Euro) und Mbappé höchstens noch die Erinnerung an die Vergangenheit. Im Viertelfinale des Uefa Cups 1992/93 gelang im Rückspiel in Paris ein 4:1, nachdem Real das Hinspiel seinerseits 3:1 im Bernabeu gewonnen hatte. Damals konnte auch der heutige Real-Sportdirektor Emilio Butragueño den königlichen Katzenjammer nicht mehr verhindern.

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