Süddeutsche Zeitung

Paralympics:Schach statt Schießstand

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Die dreimalige Biathlon-Weltmeisterin Clara Klug verpasst die Paralympics in Peking. Über eine Sportlerin, deren Pechsträhne kaum zu fassen ist.

Von Sebastian Winter

Clara Klug lernt jetzt Schach. Das ist durchaus angemessen für eine, die das Abitur mit der Note 1,2 bestanden hat. Ein Freund gibt ihr Unterricht und auch Hausaufgaben. "Man braucht ja Alternativen", sagt die 27-Jährige. Dass sie mal Schach spielen würde, wenn die Paralympics vor der Tür stehen, hätte sie selbst nie gedacht.

Klug kann sich noch gut erinnern an ihren Sturz. In Östersund war das, tiefstes Schweden, Ende Januar, Biathlon-Weltcup. Beim Training fuhr sie in der letzten Linkskurve vor der Einfahrt zum Schießstand ungeplant innen an ihrem Begleitläufer Martin Härtl vorbei. "Stopp!" konnte er noch rufen, doch es war schon zu spät. Sie rutschte einen steilen Abhang hinunter, überschlug sich, ihr Stock, ihr Ski, alles zerbrach, aber nicht nur das: Ihre Schulter schmerzte, weil sie unsanft auf dem rechten Arm aufgekommen war.

Zunächst dachte sie sich nichts dabei. Höchstens eine Prellung. Erst nach ihrer Rückkehr nach München, wo Klug wohnt und geboren wurde, ging sie ins Krankenhaus, im Klinikum rechts der Isar sagten ihr die Ärzte dann: Tuberculum-majus-Fraktur, der knöcherne Vorsprung am Oberarmkopf war zerbrochen. Und ihr Traum von der Teilnahme an den Paralympics in Peking gleich mit.

"Keiner von uns will unbedingt nach Peking, aber alle wollen zu den Paralympics", sagt Klug: "Da bricht schon ein Traum zusammen. Andererseits: Es sind wohl die Spiele, auf die man am besten verzichten kann." Jetzt, da auch noch Krieg herrscht in einer Zeit, in der der olympische Frieden gewahrt werden sollte.

Haarriss im Mittelhandknochen: Schon im Dezember war sie gestürzt

Die fast blinde Biathletin Klug hat bei den Winterspielen 2018 in Pyeongchang mit ihrem Begleitläufer Martin Härtl zwei Bronzemedaillen gewonnen, im Jahr darauf drei Titel bei der Weltmeisterschaft in Kanada. Die Langläuferin Klug wiederum sicherte sich mit Härtl weiteres Edelmetall bei jener WM in Prince George, British Columbia. Paralympics-Gold fehlt noch in ihrer Sammlung, sie wollte auch deswegen in Peking starten. In Südkorea hatte sie bei der Schlussfeier die deutsche Fahne getragen.

Aber die Rückschau hilft ja nicht viel, wenn in der Gegenwart so vieles missglückt. Schon im Dezember war Klug, die für den PSV München startet, beim Weltcup-Rennen in Canmore, Kanada, gestürzt, Haarriss im Mittelhandknochen. Wieder eine Linkskurve. Härtl, ihrem Begleitläufer, gibt sie keinerlei Schuld: "Er hat als Guide alles getan, was er konnte. Man muss dann trotzdem erst wieder Vertrauen zueinander finden." Klug kämpfte sich wieder heran, sie wollte Peking nicht aufgeben - bis zum Sturz in Östersund, der ihr nun die letzte Energie geraubt hat. Energie, von der sie bereits während der letzten beiden Pandemiejahre viel verloren hatte - auch weit über das Sportliche hinaus. "Das war eine harte Zeit", sagt Klug.

Im März 2020 waren Klug und Härtl schon bei der WM, wieder in Östersund, keine 24 Stunden vor dem Start wurden wegen der Pandemie alle Rennen abgesagt. Klug fiel in den Monaten danach wie viele andere Spitzensportler in ein mentales Loch. Im Mai musste sie sich einer Bauch-OP unterziehen, im Sommer erlitt sie einen doppelten Bänderriss, im Herbst machte eine schwere Bronchitis ihr Training zunichte. Wettkämpfe gab es ohnehin keine. Und als sie wieder begannen, stürzte sie abermals, in Planica.

Die Maske wird zum Hindernis, sie vermindert Klugs Raumgefühl

Die Pandemie machte auch im Alltag etwas mit ihr. Was sie generell mitnimmt: Sie sieht immer weniger. Klug kam mit einer degenerativen Netzhautstörung zur Welt, inzwischen erkennt sie nur noch Schemen mit dem linken Auge, mit dem rechten gar nichts mehr. "Seit 26 Jahren erblinde ich, das Wenige, was ich sehe, wird noch weniger. Das ist nicht schön und auch psychisch nicht ganz einfach." Klug war orientierungsloser als sonst, in der Straßenbahn, wo sie die Masken verunsicherten, die die anderen Fahrgäste trugen und deren Stimmen dämpften.

Aber auch ihre eigene Maske wurde zum Hindernis, weil sie ihr Gefühl für den Raum vermindert. "Mit Maske fühle ich mich zu einhundert Prozent mehr behindert, als ich es bin", sagte Klug schon vor einem Jahr im SZ-Interview. Im Supermarkt sollte sie Abstand halten, wusste aber natürlich nicht, ob es nun auch wirklich 1,5 Meter sind. Ein Jahr lang war sie nicht einkaufen, auch wegen der Angstzustände, die sie deswegen hatte. Sie ließ das lieber Freunde für sich erledigen. Auch, weil sie nicht mehr angeschnauzt werden wollte beim Bäcker, nachdem sie jemandem wieder zu nah auf die Pelle gerückt war.

Immerhin hatte sie Buddy, ihren Begleithund, den sie sich angeschafft hatte als Alltagshelfer. "Aber der kann im Supermarkt auch schlecht auf die Abstandsregeln schauen", sagt Klug.

Vergangenen November bricht Streit aus im deutschen Paraski-Team

Aus dem Tief hat sie sich dennoch herausgekämpft, dank ihrer Familie, dank Härtl, ihres Guides. Wann immer es möglich ist, fährt die von ihrem Dienst bei der bayerischen Polizei freigestellte Athletin mit ihm nach Kaltenbrunn, ein Schneeloch bei Garmisch, zum Trainieren auf die Loipe.

Doch die Hindernisse wollten nicht kleiner werden. Im vergangenen November brach dann auch noch Streit aus im deutschen Paraski-Team beim Trainingslager in Livigno. "Es gibt Rivalitäten untereinander, einen konkreten Vorfall mit einer anderen Athletin. Und das, obwohl man sich stützen müsste. Der Bundestrainer hatte dabei auch kein glückliches Händchen", sagt Klug in aller Offenheit.

Was muss eigentlich noch alles zusammenkommen? Bald darauf kamen die beiden Linkskurven in Canmore und Östersund. Klug weiß nicht, wie es weitergeht, sie ist erst einmal krankgeschrieben. In Corona-Quarantäne war sie kürzlich auch noch, sie nutzte die Zeit, um sich mit Olympia in Peking intensiv zu befassen: "Da ist mir die Lust dann völlig vergangen."

Vielleicht ist das nun doch alles besser so, München-Pasing statt Peking, Schach statt Schießstand, "einfach mir mal eine Pause gönnen und sie dann auch genießen". In den vergangenen zehn Jahren konnte sie das fast nie: loslassen. Und wenn es einen so aus der Kurve haut wie Klug, dann kann das ja auch der Beginn von etwas Neuem sein.

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