Süddeutsche Zeitung

Paralympics:"Ganz schwierige Frage"

Lesezeit: 4 min

Sprinter Felix Streng verpasst seinen zweiten Golderfolg in Tokio knapp. Über Silber kann der 26-Jährige sich nicht so richtig freuen, denn er wollte etwas beweisen - auch dem eigenen Verband.

Von Thomas Hahn, Tokio

Der Regen hört nicht auf. Lindy Ave steht am Start und schaut in die Kurve. Die Stadionrunde liegt vor ihr, das nächste Finale ihrer Karriere. Diesmal über 400 Meter bei den Paralympics in Tokio.

Nach dem Startschuss läuft sie nicht überhastet los. Der lange Sprint ist die härteste Disziplin der Leichtathletik, weil man in keiner anderen so lange die Atemlosigkeit aushalten muss. Aber Lindy Ave scheint alles unter Kontrolle zu haben. Andere halten ihr Tempo nicht durch. Sie schon. Auf der Zielgeraden führt sie, und die Kraft reicht. Sieg in 1:00,00 Minute. Weltrekord für die Sportklasse T38. Lindy Ave hockt auf der Bahn im prasselnden Regen zwischen den Pfützen und schnauft.

"Das hätte ich im Leben niemals gedacht", sagt sie später. "Es ist immer eine Herausforderung, dass man überhaupt ins Finale kommen darf." Und das Wetter? "Na ja." Sie lächelt. "Regenwetter ist man sowieso gewohnt, wenn man an der Ostsee wohnt."

Lindy Ave, 23, spastisch gelähmte Sprinterin aus Greifswald, hat also am Samstagabend im Nationalstadion von Tokio das 13. Paralympics-Gold für den deutschen Para-Sportverband DBS gewonnen. Sie besserte damit eine Bilanz auf, die Chef de Mission Karl Quade bei der Schlusspressekonferenz am Nachmittag ohnehin schon gelobt hatte. Der Beginn war schleppend gewesen, aber dann kamen die Erfolge. "Die zweite Woche hat funktioniert", sagte Quade. Die Mannschaft war kleiner, die Zahl der Medaillen auch, und vor dem abschließenden Sonntag lagen die Deutschen im Medaillenspiegel auf Platz elf, nicht unter den besten Zehn wie erhofft. Aber da wollten Quade und DBS-Präsident Friedhelm Julius Beucher nicht kleinlich sein. Sie freuten sich lieber über die vielen Bestleistungen, welche die Nominierten erzielt hatten.

Felix Streng wollte nicht Zweiter werden - er wollte etwas beweisen

Ideal war das DBS-Abschneiden nicht. Der Mannschaftssport scheint zum Beispiel eine Baustelle zu sein. Die Rollstuhlbasketballerinnen verloren ihr Bronzespiel gegen die USA 51:64 - also gab es nichts Zählbares für deutsche Teams in Tokio. Auf der Plus-Seite wiederum steht: Junge Leute haben gewonnen, allen voran der sehbehinderte Schwimmer Taliso Engel, 19, der während der Woche über 100 Meter Brust mit Weltrekord von 1:02,97 Minuten siegte. Oder eben Lindy Ave. Oder der Prothesensprinter Felix Streng, 26, der erst am Montag in 10,76 Sekunden über die 100 Meter seiner Sportklasse Gold gewann und am Samstag über 200 Meter Silber in 21,78 Sekunden. Wobei Strengs Erfolgsgeschichte eine sehr eigene ist in der Welt des DBS.

Felix Streng sieht nach der Siegerehrung nicht glücklich aus. Er hat die Silbermedaille um den Hals. Trotzdem. "Keine Ahnung, was los war." Er wollte eigentlich nicht Zweiter werden. Nach dem Vorlauf am Vormittag hatte er ein gutes Gefühl. Ein sehr gutes. "Ich dachte, heute kann ich fliegen." Aber dann: "Ich habe mir beim Aufwärmen voll den Adduktor gezogen, ich konnte mir nicht mal den Schuh richtig anziehen im Callroom." So, wie er es erzählt, ist es ein Wunder, dass er überhaupt loslaufen konnte. "Ich kann gerade nicht mal mein Bein heben." Er sagt: "Das ist schon eine Enttäuschung."

Streng wollte den Doppelsieg wohl auch deshalb, weil er etwas beweisen will. Er hat nämlich einen kühnen Schritt gewagt. Ende 2020 scherte er aus dem Para-Leichtathletikteam von Bayer Leverkusen aus, in dem er jahrelang mit hochdekorierten Leuten wie Johannes Floors, David Behre oder Markus Rehm trainiert hatte. Er wechselte zum Sprintteam Wetzlar. Und: Er zog nach London, um dort mit Sprintcoach Steve Fudge zu arbeiten, der Olympiaathleten wie Adam Gemili und James Dasaolu zu Zeiten unter zehn Sekunden geführt hat.

Ins Ausland zu ziehen, bildet. Allerdings scheint die Trennung nicht ganz harmonisch verlaufen zu sein. "Felix hat leider ein bisschen verbrannte Erde hinterlassen", sagte Johannes Floors nach dem 100-Meter-Finale, in dem er hinter Streng Dritter geworden war. Floors, am Freitag Gold-Gewinner über 400 Meter, fügte hinzu, er verstehe sich trotzdem noch gut mit Streng. Aber Streng versteht nicht, warum der Verbrannte-Erde-Satz überhaupt fallen musste. Warum diese negative Energie? Und wenn man ihn fragt, ob er sich vom DBS ausreichend unterstützt fühlt, sagt er: "Ganz schwierige Frage." Er starte für den deutschen Verband, er habe selber Entscheidungen getroffen. Es klingt, als sei das nicht gut angekommen.

Streng kann gewinnend über das Sprinten philosophieren

"In anderen Sportarten ist das normal, dass Leute ins Ausland gehen. Ich glaube, da muss der Para-Sport offener werden", sagt Streng, "am Ende habe ich viel auf meine Kappe genommen, und ich habe mit meiner Leistung gezeigt, dass es funktioniert. Deshalb würde ich mir in den nächsten Jahren noch ein bisschen mehr Unterstützung wünschen." Es gab keine vor Tokio? "Doch, doch", sagt Streng schnell. "Aber natürlich war das auch alles ein bisschen komplizierter."

Streng kann gewinnend über das Sprinten philosophieren. An Coach Fudge mag er, dass der ein Tüftler ist, ein Erforscher des Rennens und seiner Kräfte. "Ich komme schon mit einer sehr guten Physis zum Training, deshalb ist es sehr interessant, was passiert, wenn man mit einem Trainer zusammenarbeitet, der so biomechanisch rangeht", sagt Streng. "Wir arbeiten gerade daran, in welcher Position der Körper wie viel Energie auf die Bahn bringen kann." Er mag dieses Training am Detail.

Eine Kritik an den Leverkusener Methoden ist das nicht. Eher ein Statement für das Interesse an neuen Ideen. Neue Ideen haben dem deutschen Sport noch nie geschadet - wenn er sie zugelassen hat. Der Goldsprinter Streng steht jedenfalls zu seinem Weg. Am Ende der Paralympics sagt er: "Ich freue mich auf die Zukunft."

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