Süddeutsche Zeitung

Leichtathletik:Hochglanztalent aus der Leistungsfabrik

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Die erstaunlichen Erfolge der Hürdenläuferin Femke Bol, 22, aus den Niederlanden erzählen einiges darüber, wie kleine Leichtathletiknationen ihr Wissen und ihre Mittel cleverer einsetzen als manch großer Nachbar.

Von Johannes Knuth, München

Ein paar Sekunden lang gönnte sich Femke Bol eine Pause auf der Bahn, die Beine von sich gestreckt, dann ging's schon wieder weiter. Ehrenrunde, Fotos mit den Polinnen Natalia Kaczmarek und Anna Kielbasinska, die sie gerade über 400 Meter bezwungen hatte, plötzlich noch mal ein Sprint, die niederländischen TV-Reporter im Zielbereich wollten dringend mit ihr auf Sendung gehen. Meistens kommandieren Helfer die Athleten in solchen Fällen dahin oder dorthin, weil die Sportler noch tief in einem Meer an Emotionen versunken sind. Aber Bol hatte gedanklich offenbar schon Raum für protokollarische Dinge. Man hatte eher das Gefühl, dass es sie war, die die Offiziellen lenkte.

Ein Fakt ist zuletzt ein bisschen in den Schatten gerückt, weil die Weltrekordhatz der Amerikanerin Sydney McLaughlin viel Aufmerksamkeit auf sich zog: dass kaum eine Leichtathletin in den vergangenen Jahren so rasch in die Spitze geschossen ist wie Femke Bol, 22, aus Amersfoort. Vor vier Jahren, mit 18, lief sie die 400 Meter in 54,33 Sekunden, solides Niveau in ihrer Heimat. Ein Jahr später war sie U20-Europameisterin über die 400 Hürden (56,25), erreichte bei der WM der Erwachsenen das Halbfinale.

Bol machte im Corona-Jahr 2020 bei 53,78 Sekunden Halt, ein Jahr später bereits bei rasenden 52,03 und Olympia-Bronze in Tokio. Sie verbesserte in diesem Jahr 13 (!) Mal ihren Landesrekord. Irgendwie wirkte es selbstverständlich, dass sie nun in München, bevor sie sich am Wochenende die Langhürden vorknöpft, zunächst den EM-Titel über 400 Meter ohne Hindernisse mitnahm, in 49,44 Sekunden, Landesrekord. Schneller war in diesem Jahr nur eine Frau: Shaunae Miller-Uibo, die diensthabende Weltmeisterin.

Wenn man die Statik des Erfolgs von Femke Bol besser verstehen will, wendet man sich am besten an Laurent Meuwly, 44, Schweizer, der einst schwer an den Erfolgen von Lea Sprunger beteiligt war, der Europameisterin von 2018 über die Langhürden. 2019 verpflichteten ihn die Niederländer als Trainer für die 400 Meter und Langstaffeln. Im selben Jahr sah er Bol das erste Mal, eine schlanke 18-Jährige, lange Beine, gute Ausdauer. Sie solle es doch mal mit den Hürden probieren, sagte er Bols damaligem Trainer. Ein Jahr später stand sie im WM-Halbfinale.

Bols größte Stärke sei gar nicht der Körper, sondern der Kopf, glaubt ihr Trainer

Meuwly findet das nachvollziehbar: weil eine solch junge Athletin ja fast von selbst schneller und kräftiger wird, wenn sie auf das richtige Umfeld trifft. Natürlich sei sie physisch enorm veranlagt, könne sich von längeren Sprints schnell erholen; in Eugene gewann sie, neben Silber hinter McLaughlin (52,27), auch Silber mit der Mixed-Staffel. Ihre größte Stärke schlummere aber im Kopf, sagt Meuwly: Sie denke an alle Details - und wenn es das TV-Interview nach dem Goldlauf ist -, sei immer bestens vorbereitet, analysiere ihr Tun, führe immer einen Plan B und C für ihr Sportlerleben mit sich. "Das ist in dem Alter gar nicht selbstverständlich", findet Meuwly.

Nach einem erfolgreichen Jahr, wie Bol es 2019 erlebte, wären andere wohl bei ihrem Heimtrainer geblieben, auch Bol sinnierte lange, ob sie ihre Familie verlassen und zu Meuwly nach Papendal umsiedeln sollte, in den Olympiastützpunkt der Niederländer in Arnheim. "Aber als sie sich entschieden hatte, war sie zu 100 Prozent da", erinnert sich Meuwly: "Das ist ihre Stärke."

Von Papendal, der Leistungsfabrik, war zuletzt oft die Rede, wenn in Deutschland diskutiert wurde, wie die schwächelnde Leichtathletik wieder zu Kräften kommen könnte. Rund ein Dutzend Olympiasportarten sind dort versammelt, die besten Leichtathleten seit Jahrzehnten. Wer im Olympiakader ist oder kurz davor, wird vom Olympia-Komitee so alimentiert, dass er sich voll in den Sport knien kann (20 davon gehörten allein den Staffel-Kadern an, sagt Meuwly). Der Trainer ist ein großer Fan dieser Zentralisierung - viele, die zu lange in ihren Ausbildungsnestern blieben, verschenkten Potenzial, findet er. In Papendal sei alles an einem Ort, die vor Ort leben, Physiotherapeuten, Biomechaniker, nicht übers Land verstreut wie in der Schweiz oder in Deutschland. Bei den Sommerspielen in Tokio gewann die 4x400-Staffel der Männer Silber, Bol Bronze, die Niederländer acht Medaillen. Fünf mehr als die Deutschen.

Und noch ein Standortvorteil: Als Meuwly mit den Niederländern verhandelte, machte er es zu Bedingung, dass er einige seiner damaligen Schweizer Athleten nach Papendal mitnehmen durfte, darunter Lea Sprunger. In Deutschland ist so etwas undenkbar, die Fördermittel des Bundes dürfen nur deutschen Athleten zugutekommen. Auch Meuwlys neue Chefs waren erst skeptisch, mittlerweile sähen sie die Vorzüge, sagt er: "Lea hat Femke so viele Wege aufgezeigt, wie man als Profi arbeitet, beide telefonieren noch heute ständig." Er sehe nur Vorteile bei solch grenzübergreifendem Wissenshandel.

Die deutsche Trainingslehre über 400 Meter überzeuge ihn nicht, sagt Meuwly

Auch Meuwly selbst ist eine interessante Figur. Er tauchte schon als 18-Jähriger in die Trainerlaufbahn ein, weil er als Leichtathlet oft verletzt war und seinen Schützlingen eine bessere Ausbildung ermöglichen wollte. Er sieht und liest viel, wobei ihn die deutsche Trainingslehre der 400 Meter nicht überzeugt, trotz mancher Bemühungen, sich für Neues zu öffnen. Seit Jahrzehnten heiße es dort: "Von kurz zu lang", als könne man die Ausdauer im Langsprint vor allem über viele harte und kürzere Tempoläufe festigen.

Das sei zu einseitig, findet Meuwly, wie ein Haus, das von zwei statt vier Wänden getragen werden soll. Man müsse auch längere, langsamere Umfänge lehren, sechs oder sieben Kilometer in einer Einheit etwa, 800-Meter-Training. Nur so könne man mehrere Runden bei Meisterschaften gut laufen, erhole sich schneller. Er glaube, sagt Meuwly, in Deutschland denke man noch immer, "dass die Ausdauer dich im Sprint langsam macht".

Kurzer Schwenk in die Ergebnislisten: Da kommt die internationale Spitze seit Jahren weitgehend ohne deutsche Vertreter aus. In München schaffte es nur ein Läufer ins 400-Meter-Halbfinale: Patrick Schneider, der sich zuletzt auf den 800 Metern fortbildete. Bei den Frauen blieb Corinna Schwab, die deutsche Meisterin, die fürs Halbfinale automatisch qualifiziert war, fast zwei Sekunden über ihrer Bestzeit, in 52,70. "Als hätte mir jemand den Stecker gezogen", sagte Schwab: "Ich habe da keine Erklärung für."

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