Der Moment würde nun bestimmt gleich kommen, fast jeder Athlet in dieser Lage hätte zumindest so gehandelt: Als Favoritin über 400 Meter, die im Vorlauf im stickigen Berliner Olympiastadion allen anderen weit voraus war, lässt man es auf den letzten Metern austrudeln. Das ist ja auch ein Signal an die Konkurrenz: Schaut, ich habe noch Kraft, an der werdet ihr im Finale erst recht verzweifeln. Aber Corinna Schwab, die nun so überlegen durch ihren Vorlauf preschte, blieb einfach am Anschlag, und das durfte man auch als programmatischen Hinweis verstehen: Diese Athletin im dunkelblauen Dress macht die Dinge nicht so wie viele andere.
So kam es, dass sie am Wochenende, bei den deutschen Leichtathletik-Meisterschaften in Berlin, schon Schwabs Vorlauf bejubelten. 50,91 Sekunden, so schnell hatte keine Deutsche die Stadionrunde in den vergangenen 20 Jahren zurückgelegt. "International gibt es drei Runden", Vorlauf, Halbfinale, Finale, erklärte Schwab später ihre Taktik, "da muss man auch gleich alles geben, damit man eine Chance auf die nächste Runde hat."

Leichtathletik:Wetterleuchten am Horizont
Vereinzelte Glanzlichter, unangefochtene Meister, viele verletzte oder angeschlagene Sorgenkinder: Die deutschen Leichtathleten präsentieren sich bei ihren nationalen Meisterschaften widersprüchlich - wenige Wochen vor den Welt- und Europameisterschaften.
Das alles jetzt zu proben, wenn in den kommenden zwei Monaten Welt- und Europameisterschaften anstehen, ist sicherlich keine schlechte Eingebung. Und die 51 Sekunden, die wollte sie ohnehin schon immer unterbieten, sagte Schwab, sie fügte an: "Aber ich möchte mich auch natürlich nicht darauf ausruhen."
Corinna Schwab vom LAC Erdgas Chemnitz, 23 Jahre alt, war in den vergangenen Jahren meist zur Stelle, wenn es über die kürzeren und längeren Sprintstrecken etwas zu gewinnen gab. Sie wurde U-18-Weltmeisterin mit der Sprintstaffel, gewann Silber und Bronze mit der 4x400-Meter-Auswahl bei den kontinentalen Nachwuchstitelkämpfen. Der 400-Meter-Titel jetzt in Berlin war schon ihr dritter bei den Erwachsenen, auch wenn ihr im Finale auf der Zielgeraden ganz schön die Kraft aus den Beinen wich, 51,61 Sekunden benötigte sie letztlich.
Schwab will zeigen, "dass wir Deutschen über 400 Meter schnell rennen können"
Das alles soll aber auch erst der Anfang eines schönen, langen Weges sein, im Gegensatz zu jenen Sternchen, die oft zwischen Jugend- und Erwachsenenbereich verglühen. Sie wolle langfristig wieder zeigen, "dass wir Deutschen über 400 Meter schnell rennen können", hatte Schwab vor Längerem ausgerufen. Das vorerst letzte Einzelfinale, das eine deutsche Läuferin mitgestaltete, liegt tatsächlich elf Jahre zurück: Janin Lindenberg wurde Fünfte bei der Hallen-EM.
Schwab wuchs in der Oberpfalz, beim TV Amberg, in die Leichtathletik hinein, ihre Trainer Gundy und Lutz Glaser waren rasch von diesem zielstrebigen Talent überzeugt. Sie war auf den kurzen und den langen Sprintdistanzen begabt, lief die 200 Meter in der U-20-Klasse schon in 23,55 Sekunden - zuletzt, in Wetzlar, beeindruckte sie gar in 22,51.

Gina Lückenkemper:Dampfend vor Glückseligkeit
Sie ist wieder schnell: In 10,99 Sekunden fliegt Gina Lückenkemper über 100 Meter im Berliner Olympiastadion zum deutschen Meistertitel. Viele sprechen von einem Comeback, sie sagt: "Ich bin nie weg gewesen."
Sie sehe sich aber fest auf der doppelten Strecke, bekräftigte sie in Berlin, und es ging dort bislang ja auch immer voran: die erste Zeit unter 53 Sekunden, unter 52, jetzt der Knaller im Olympiastadion. Schwab sei ein "ruhiger Typ", hat die Nachwuchs-Bundestrainerin Claudia Marx einmal gesagt, sie schlage dafür "im richtigen Moment zu." Bestzeiten lief sie oft in Endläufen bei Nachwuchs-Großevents, noch so eine rare Stärke.
Versteht man Schwab richtig, zieht sie ihre derzeitige Kraft auch aus einem großen Rückschlag: 2019, als sie von Amberg nach Chemnitz umzog, zum Wirtschaftsstudium und in die Trainingsgruppe von Bundestrainer Jörg Möckel, erlitt sie einen Fußbruch. Ihre Trainingsgruppe um Rebekka Haase (200-Meter-Meisterin in Berlin in 23,02) und 400-Meter-Läufer Manuel Sanders, die sie zu Erfolgen ziehen sollte, musste erst mal ein Netz der Unterstützung spannen. Das, sagt Schwab heute, habe sie durch manch dunkle Momente getragen.
Zugleich sei sie mit Möckel rasch handelseinig gewesen: "Wir rollen das Feld noch mal neu auf, gucken: Wie trainieren die guten internationalen Athleten?" Gerade an dieser Wehrhaftigkeit, über mehrere Runden bei Meisterschaften zu überzeugen - zuletzt auch nicht gerade eine deutsche Stärke -, habe man schwer gearbeitet, sagte Schwab: mit Überdistanzen, schnelle 500 Meter etwa ("nicht so meine Lieblingsstrecke"), auch mit harten Einheiten über zwei Tage und einem Tag Pause, "zum Erholen, um dann die Grenzen wieder nach oben zu verschieben". Manchmal, sagt Schwab, auch das habe sie gelernt, lohnt es sich auch, wenn es in der Karriere mal länger nicht vorangeht - wenn das dem langfristigen Erfolg dient.
Sie wird ihr neues Können benötigen in diesem Sommer, allein die Laufwelt bewegte sich im Weltmaßstab mal wieder in absurden Sphären. Die Amerikanerin Sydney McLaughlin lief die 400 Meter bei den US-Meisterschaften zuletzt in 51,41 Sekunden - mit Hürden im Weg, Weltrekord. Bei der WM in Eugene, sagte Schwab in Berlin, wolle sie nur mit der Mixed-Staffel und über die 4x400-Meter der Frauen antreten, da sind die Chancen höher, ins Finale vorzurücken (und bessere Fördergelder zu sichern). Für die EM in München sähe es im Einzel freilich schon erbaulicher aus; über die 200 Meter waren in Europa bislang sogar nur Mujinga Kambundji (Schweiz) und Dina Asher-Smith (Großbritannien) schneller. Corinna Schwab wird es jedenfalls wieder versuchen: Da zu sein, wenn es zählt.