Süddeutsche Zeitung

Olympische Zeitreise von 2021 nach 1964:Raumschiffe für folgende Generationen

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Es gab sie tatsächlich mal, die nachhaltigen Spiele: Im Olympiapark von Tokio sind die Wettbewerbe von 1964 bis heute in Bauten und Begegnungen lebendig. Spaziergang durch die Vergangenheit.

Von Thomas Hahn, Tokio

Der Bezirk Setagaya im Südwesten Tokios kommt einem manchmal vor wie eine Wüste aus Häusern, weil das Labyrinth der Straßen kein Ende nimmt. Aber wenn man weiß, wie man vom Bahnhof Komazawa-daigaku abbiegen muss, findet man in der zusammengewürfelten Landschaft aus Gebäuden und Reklameschildern bald eine Weite, die selten ist in Japans größter Metropole. Zweimal links - schon steht man zwischen Sportplätzen und hohen Bäumen. Und wenig später liegt da der helle Platz im Zentrum des Olympia-Parks Komazawa, ein lebendiges Vermächtnis der Olympischen Spiele von 1964.

Olympia kann ein bleibendes Erlebnis sein, das vergisst niemand, der aus Städten wie München, Montreal oder London kommt. Die Spiele haben dort stattliche Parks, gut besuchte Sportstätten und architektonische Hingucker hinterlassen. Und auch Tokio ist ein Beispiel dafür, wie zwei tolle Wochen mit Sportlerinnen und Sportlern aus aller Welt zum Anlass werden können, Bewegungsräume für folgende Generationen zu schaffen.

Die Architektur strahlt den Charme einer veralteten Moderne aus. Retro-Romantik

Die ersten Olympischen Spiele in Tokio waren ein Erfolg. Sie zeigten Japan als innovatives, wiederaufgebautes Land, inspirierten die Nachkriegsgesellschaft mit dem Hochgeschwindigkeitszug Shinkansen und mit Farbfernsehen. Und viele ihrer Sportstätten wurden zu Kulturdenkmälern, die wohl niemand mehr jemals aus Tokio wegdenken wollte.

Die Kampfsporthalle Nippon Budōkan in Chiyoda, die damalige Schwimmhalle Yoyogi National Gymnasium in Shibuya mit ihrem schneckenförmigen Annex, in dem das Basketball-Turnier stattfand. Und eben der Olympiapark Komazawa in Setagaya, in dem man jeden Tag beobachten kann, wie Menschen ihre Freude an der Bewegung ausleben.

Der zentrale Platz des Parks strahlt den Charme einer veralteten Moderne aus. Das geschwungene Dach des Leichtathletik-Stadions, in dem 1964 Fußballspiele stattfanden, oder die verwitterte Betonkonstruktion der damaligen Ringer-Halle stehen für den Blick in eine längst vergangene Zukunft. Wie altertümliche Raumschiffe parken sie am Rande des Platzes und überdauern die Zeit, während drinnen die Jugend tobt.

Dort, wo Japans Ringer einst fünf Goldmedaillen gewannen, findet auf renoviertem Parkett gerade ein Wettbewerb für junge Schülerinnen im Cheerleading statt. Im Foyer ist ein kleines Museum untergebracht, das Bilder und Trikots von 1964 ausstellt.

Die Dame am Eingang zeigt gerne die Broschüren von damals und klärt auf: Der Turm, der an der Stirnseite des Platzes wie ein überdimensionales Regal aufragt, sei kein reines Kunstwerk, sondern diente 1964 der Verkehrskontrolle. Und die Halle gegenüber, die heute eine seltsame Schirmkonstruktion überspannt, war der Schauplatz, an dem die unvergesslichen "Orientalischen Hexen" für Japan gegen größer gewachsene Konkurrenz das Turnier der Premierensportart Volleyball gewannen.

Das alte Schwimmbad ist trockengelegt, Büsche wachsen über den Kacheln

Draußen herrscht ein uneitles Treiben. Spieler nutzen die Weite des Platzes zum Fußball. An den Basketballkörben vor der ehemaligen Volleyballhalle ist ebenfalls Betrieb. Von den Tennisplätzen weht das Ploppen der Bälle herüber. Das alte Schwimmbad ist trockengelegt, Büsche wachsen über den Kacheln, die Anlage war wohl nicht rentabel. Aber auf der Jogging-Bahn, die in einer 2,1 Kilometer langen Schleife durch das 41 Hektar große Areal führt, ziehen Läuferinnen und Läufer verschiedenster Leistungsklassen trotz großer Hitze ihre Bahnen. An den Mauern der alten Hockey-Anlage übt ein Tennisspieler Aufschläge in ein Netz, das er eigens mitgebracht hat.

Und gleich daneben macht Michihiro Chiba an einer Bank seine Gymnastik. Die Übungen wirken etwas eigenwillig, eine Mischung aus Kniebeugen und Armschwingen. Aber das macht nichts. Chiba ist 84, wohnt in der Nähe und kommt regelmäßig mit dem Fahrrad her. "Dies ist mein Platz", sagt er, aber erzählt nicht viel von früher - außer, dass es dreckiger war. Früher interessiert ihn auch eigentlich nicht. "Der Fortschritt hat alle Japaner dazu ermutigt, nach vorne zu schauen", sagt Michihiro Chiba.

Hinter den Mauern des Hockey-Feldes ist Lärm und Aufregung. Man muss ganz herumgehen, um den Eingang zu finden. Ein Lacrosse-Spiel läuft. Eine emotionale Angelegenheit. Und dann geht es wieder Richtung Ausgang, vorbei an belebten Baseballfeldern, an Joggern und Spielplätzen mit schaukelnden Kindern. Der ganze Park wirkt wie ein geordnetes Durcheinander aus Spiel und Schweißvergießen.

Wie ein Olympia des Alltags ohne Medaillen und eifernde Fernsehkommentatoren. 57 Jahre ist es her, dass die ersten Olympischen Spiele von Tokio hier stattfanden. Und trotzdem wirken sie noch viel lebendiger als jene, die von diesem Freitag an stattfinden sollen. Vielleicht liegt das daran, dass die Menschen in der Pandemie Möglichkeiten, selbst Sport zu treiben, nötiger haben als ein Ringe-Entertainment, das sie nur im Fernsehen anschauen können.

Jedenfalls kann man sagen, dass Olympia 1964 ein nachhaltiger Erfolg war. Ob man in 57 Jahren das Gleiche auch über Olympia 2020/2021 sagen kann? Fraglich. Es ist kein neuer Olympiapark entstanden für Tokios nächste Sommerspiele, nur ein paar vereinzelte Neubauten. Viele Wettkämpfe finden zwischen Stahlrohrtribünen auf provisorischen Sportplätzen statt, die nach dem Ereignis bald verschwunden und vergessen sein werden. Und wieder andere Wettkämpfe werden in den Anlagen von 1964 ausgetragen, zum Beispiel im Nippon Budōkan oder dem Yoyogi National Gymnasium. Natürlich. Sie sind einfach zu gut, um nicht wiederverwendet zu werden.

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