Süddeutsche Zeitung

Nationalmannschaft:Denkt an 1994!

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Von Philipp Selldorf, Eppan

Er werde nicht länger "Artenschutzbeauftragter für ehemalige Weltmeister sein" und sich "nicht mehr von den Spielern benutzen lassen", versprach der zornige Bundestrainer, bevor er gleich auch noch den Rest der Zunft anklagte: Unter anderem "die engstirnigen Landesfürsten" im Reich des DFB sowie "die eigensüchtigen Bundesligamanager", die endlich begreifen müssten, "dass Umdenken angesagt ist". Harte Worte.

Allerdings fielen diese Worte nicht in Eppan in Südtirol, wo sich die deutsche Nationalmannschaft derzeit unter der gütigen Aufsicht von Jogi Löw auf die WM in Russland vorbereitet, sondern vor 24 Jahren in einem Hotelzimmer in New York City, wo Löws Vorgänger Berti Vogts nach der WM in den USA zwei Reporter zum Spiegel-Interview empfangen hatte. Besser gesagt: zur Abrechnung - unter anderem mit jenen "satten Fußballmillionären" (wie sie der Spiegel nannte) und "Unternehmern in eigener Sache" (wie sie der DFB-Chef Egidius Braun nannte), die soeben bei der Verteidigung des Weltmeistertitels schmählich versagt hatten.

"Weggeschmissen" habe man damals den nächsten Titelgewinn, hieß es jetzt in einem weiteren, viel beachteten Rückblick auf das Scheitern in Amerika. Diesmal jedoch trug die bittere Wahrheit nicht mehr Vogts, sondern Oliver Bierhoff vor. Nachdem sich am Vortag der Bundestrainer am selben Ort außerordentlich relaxed zum Stand der Ambitionen bei seinen amtierenden Weltmeistern geäußert hatte ("Wir brauchen nicht den Hunger nach oben zu treiben, der Hunger ist vorhanden"), sah sich der DFB-Manager Bierhoff nun offenbar genötigt, ein paar diskrete Warnungen auszusprechen. Eine Mission Titelgewinn, wie sie die Nationalelf vor vier Jahren in Brasilien angepeilt hatte, unterscheidet sich seiner Meinung nach ganz wesentlich von einer Mission Titelverteidigung. Für die Deutschen, glaubt Bierhoff daher, werde das Turnier in Russland "die schwierigste WM" überhaupt werden: "Wir werden die Gejagten sein und können nur erfolgreich bestehen, wenn wir die letzten Prozentpunkte herausholen."

Dieser Hinweis auf einen drohenden Notstand klang am Freitagvormittag nicht nur deshalb ein wenig angestrengt, weil die bezaubernde Kulisse in Südtirol von der Sonne beschienen wurde, während rund um die exklusiv hergerichteten Trainingsplätze die Drosseln sangen, wenn nicht gerade der Kuckuck "Gu-kuk" rief, wie das eben nur der Kuckuck kann. Sondern weil die Nachrichten und Wortmeldungen aus dem deutschen Quartier nicht mal den Ansatz zur Besorgnis bieten, wie selbst der Mahner Bierhoff gestehen musste ("Die haben alle richtig Bock").

Zumal dann auch noch Mats Hummels per Twitter seine Abreise ins Basiscamp des Deutschen Fußball-Bundes annoncierte und dabei die allseits begrüßte Neuigkeit verkündete, er werde den - von seiner Muskelverletzung gesundeten - Münchner Abwehrkollegen Jérôme Boateng mitbringen. Mancher mag da gedacht haben: Wer soll die Deutschen jetzt noch aufhalten, wenn nicht die österreichische Autobahnpolizei, falls Hummels kein Pickerl geklebt haben sollte?

Bierhoff aber meinte es ernst mit dem Hinweis auf die WM 1994, denn die hatte ebenfalls im Geist der Zuversicht begonnen. Die deutsche Mannschaft hielt sich damals für noch stärker als das Team, das vier Jahre zuvor in Rom den Pokal erobert hatte, nicht zuletzt deshalb, weil neue Spitzenspieler wie Stefan Effenberg und Matthias Sammer dem Kader angehörten. Auch Vogts ging anfangs noch sehr gütig um mit seinen Fußballmillionären. Kurz vor Turnierbeginn ließ er sich im amerikanischen Trainingscamp dazu überreden, das Training eine Stunde später beginnen zu lassen. Die Spieler absolvierten dann in der Frühe eine ausgiebige Golfpartie über 18 Löcher. Zum Training in der Vormittagshitze hatten sie dann allerdings keine Kraft mehr. In Eppan hingegen wurde am Freitag pünktlich um 11 und um 17 Uhr das Training absolviert.

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SZ vom 26.05.2018
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