Deutsche Staffel bei der Leichtathletik-WM:Vier Sprinterinnen, vier lange Wege zum Ziel
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Die 4 x 100-Meter-Staffel der Frauen gewinnt Bronze, die erste deutsche Medaille bei der Leichtathletik-WM in Eugene. Ihr Beispiel zeigt, was alles stimmen muss, um bei Meisterschaften den Erfolg auf seine Seite zu ziehen.
Von Johannes Knuth, Eugene
Sie habe es einfach gewusst, sagte Tatjana Pinto. Als sie im Call-Room noch mal meditierte, das Rennen, das sie gleich laufen würde, an sich vorbeiziehen ließ. Da habe sie schon gespürt, ganz klar, dass sie diesmal bereit waren für diese Medaille, der sie seit rund sieben Jahren hinterherjagten. Dann lief sie los, die Startläuferin der deutschen 4 x 100-Meter-Staffel, die ihrem Kopf schon im Voraus verboten hatte, dem Körper irgendwie dazwischenzufunken.
Julian Weber, der hatte es auch geahnt, am Morgen vor seinem Speerwurf-Finale, das er als Vierter beschließen würde, mit 86,86 Metern. "Ich habe schon ein bisschen schlecht geschlafen", sagte er später, mit kaltem Schweiß und mattem Kopf, das habe sich durch den ganzen Tag gezogen. Er versuchte, sich irgendwie in die Spur zu bekommen, aber wer sich so sehr selbst ins Lenkrad greift, der hat den Wettkampf fast schon verloren, bevor dieser begonnen hat.
Am vorletzten Tag dieser Weltmeisterschaften in Eugene wird ihnen im Deutschen Leichtathletik-Verband (DLV) ein kleiner Gebirgszug vom Herzen gefallen sein, ungefähr von der Größe der hier umliegenden Calapooya Mountains. Bronze für die Sprintstaffel in 42,03 Sekunden, hinter den USA (41,14), die überraschend die Jamaikanerinnen (41,18) bezwangen - das hob die DLV-Auswahl in Eugene überhaupt erst ins Medaillentableau. Und es bescherte den letzten DLV-Startern in der Nacht zum Sonntag noch etwas Rückenwind: Weitspringerin Malaika Mihambo, Zehnkämpfer Niklaus Kaul, den Stabhochspringern.
Außerdem bot das Geschehen aus deutscher Sicht eine spannende Feldstudie: Nüchtern betrachtet hatten der Speerwerfer Weber und die Staffel zwei fast gleichwertige Weltklasseleistungen eingereicht - und waren doch in zwei Universen unterwegs. Und so lernte man auch wieder einiges darüber, welcher Unterschied bei Titelkämpfen zwischen Medaillen und dem Rest trennt.
Sprinterin Alexandra Burghardt hat nun Medaillen im Sommer- und Wintersport gewonnen
Die Sprintstaffel ist ein faszinierender Wettkampf in der Individualsportart Leichtathletik; vier Menschen bringen vier Zeiten mit, vier Geschichten, und verschmelzen all das zu etwas, das größer ist als sie selbst. Einen Stab so schnell wie es geht im Kreis zu tragen, das ist mechanisch schwierig genug: Alles ist auf die Zehntelsekunde einstudiert, wann wer losläuft, wann er dem Herannahenden den Arm zur Übergabe hinhält, das muss in lauten Stadien ohne verbale Kommandos funktionieren.
Das andere ist die menschliche Komponente, ein Labor für humane Dynamik. Vier Läuferinnen müssen sich vertrauen, bedingungslos, gleichzeitig steht jede im Wettstreit mit der anderen um einen Platz im Aufgebot. Die Ersatzläuferinnen - in Eugene Sophia Junk und Jessica-Bianca Wessolly - treiben die anderen im Training an, sie schauen im Rennen zu; eine Erfahrung, die Alexandra Burghardt 2016 in Rio als eine der schlimmsten ihrer Karriere empfand. Und obwohl die Sprintstaffeln der DLV-Frauen diesen Grat immer wieder gut entlang balancierten, lagen sie auf interkontinentaler Bühne immer knapp daneben.
Peking, WM 2015: Platz fünf (damals schon mit Gina Lückenkemper, Rebekka Haase, Burghardt und Verena Sailer). Rio, Olympia 2016: Vierte. London, WM 2017: Vierte. Doha, WM 2019: Fünfte. Tokio, Olympia 2021: Fünfte. Es gehörte wohl dazu, dass jede Athletin erst ihren eigenen, persönlichen Lauf sprinten musste, bevor alles zusammenkam.
Da ist Pinto, 30, die schon 2012 EM-Gold mit der Staffel gewann. Die, wenn alles passt, eine der Besten im DLV ist, aber von Verletzungen und persönlichen Rückschlägen geschwächt wurde, zuletzt zu ihrem langjährigen Trainer Thomas Prange zurückkehrte und ihren langjährigen Verein, den LC Paderborn, dafür im Streit Richtung Wattenscheid verließ. Diese Unruhe ließ sie erst in den vergangenen Monaten hinter sich - nun schob sie ein Team an, das im Vorlauf Saisonbestzeit lief, im Finale noch einmal - ein Steigerungslauf, der in Eugene bislang wenigen DLV-Kräften gelungen war.
Da ist Alexandra Burghardt, 28: ein großes Talent, das sich lange nicht bei den Erwachsenen entfaltete, auch, weil sie mit Macht ihren Platz in der Staffel halten wollte. Die Verletzungen deshalb nicht auskurierte, irgendwann so weit unten war, dass die Sporthilfe-Stiftung ihr einen Abschiedsbrief schrieb. Die in Patrick Saile, heute Schweizer Nationalcoach, einen Trainer fand, der ihr das Laufen in der Corona-Auszeit neu beibrachte - und die jetzt einem exklusiven Kreis angehört, der im Sommer- und Wintersport eine Medaille bei einer interkontinentalen Meisterschaft erwarb, nach ihrem Olympia-Silbergewinn zuletzt mit der Bobfahrerin Mariama Jamanka.
Da ist Gina Lückenkemper, 25, die erst vor zwei, drei Jahren erfuhr, wie es ist, wenn es in einer Karriere mal nicht mehr richtig vorangeht, dabei noch mal lernte, wem sie vertrauen kann, und dass es sich lohnt, im Zweifel auf sich selbst zu hören. Die am Samstag in der Kurve zeigte, was sie immer auszeichnete: Wenn es zählt, ist sie da - diesmal, während neben ihr Dina Asher-Smith, die WM-Dritte über 200 Meter, sich beim Wechsel verletzte und die hoch gehandelten Britinnen den Deutschen die Tür damit weit aufstießen.
Und schließlich ist da Rebekka Haase, 29, immer in der nationalen Spitze dabei und immer wieder zurückgeworfen, vor allem mit entzündeten Sprunggelenken, die sie erst in der Corona-Pause ausheilen ließ. Haase war wohl die beste Auskunftsperson, wenn es am Samstag darum ging, dem Betreuerteam zu danken, vor allem dem medizinischen.
Am schönsten rahmte es am Ende Alexandra Burghardt ein: "Jetzt haben wir uns alle dafür belohnt, was jeder für sich persönlich erlebt hat, selbst einstecken musste."
Speerwerfer Julian Weber stand in Abwesenheit von Johannes Vetter und Thomas Röhler in der ersten Reihe
Auch bei Julian Weber, 27, war zuletzt viel ineinandergeflossen. Er war durch Schmerzensjahre geschritten, mit drei Fuß-Operationen, unter anderem. Er war von Mainz nach Rostock, von Rostock nach Potsdam gezogen, zur Trainingsgruppe von Burkard Looks. Es waren in diesem Sommer endlich alle Voraussetzungen da, um seine ganze Kunst aufzuführen: eine gute Technik, solides Anlauf-Tempo, eine starke Schulter, langer Zug, ein Allrounder unter den Kraftprotzen und Pfeilschnellen. Er stand nun endlich in der ersten Reihe, ohne Johannes Vetter und Thomas Röhler, die angeschlagenen Weltmeister, Europameister, Olympiasieger. Er ist gerade deutscher Meister geworden, hat sein Bestleistung auf 89,54 geschraubt. Die Qualifikation in Eugene lief "so leicht", fand er.
Und dann, am Wettkampftag: War er ein bisschen nervöser, lief etwas schneller und hektischer an, knickte beim zweiten Versuch um, sah, wie die anderen davonzogen: Weltmeister Anderson Peters (90,54), Olympiasieger Neeraj Chopra (88,13), Jakub Vadlejch aus Tschechien (88,09). Während Weber am Ende die goldene Regel verletzte, die besagt, im besonderen Moment nichts Besonderes anstellen zu wollen.
"Vierter Platz, das ist das letzte, was ich wollte", sagte er. In Tokio hatten ihn 14 Zentimeter von Bronze getrennt. Irgendwann wird aber auch er vielleicht erkennen, dass darin keine neuerliche Botschaft des Scheiterns liegen muss, sondern womöglich eine Zwischenstation. Bis man irgendwann schon vor dem großen Moment weiß, dass er einem gleich von der Hand gehen wird.