Süddeutsche Zeitung

Tennis:"Was soll ich denn machen?"

Lesezeit: 4 min

Von Barbara Klimke, London

Das schmiedeeiserne Tor hat sich schnell geschlossen hinter Angelique Kerber. Niederlagen gehören zur Tagesordnung in Wimbledon, schon seit dem Jahr 1877, als 22 Gentlemen jeweils 21 Schilling aus eigener Tasche zahlten, um die ersten Rasen-Championships auszuspielen. Kurz darauf wurde dieser Schlagabtausch im Freien über ein Netz hinweg so populär, dass die viktorianischen Ingenieure eine Eisenbahnlinie legten, um die sportinteressierten Sommerfrischer aus der City in den Vorort zu transportieren. Dann zog der All England Lawn Tennis & Croquet Club von der Worple Road an die Church Road um, baute Plätze, Stadien, noch mehr Stadien und setzte zuletzt sogar beeindruckende Faltdächer auf die Arenen, um den Regen zu zähmen. Aber an der Grundregel, dass nach jedem Duell ein Geschlagener den Platz verlässt, ist es geblieben. Mehrere hundert Matches richtet der Club diesmal in den beiden Tenniswochen aus; schon nach der zweiten Runde wurden 96 von 128 Wettkämpferinnen aus dem Tor hinauskomplimentiert. Da ist es wenig verwunderlich, dass sich die Sentimentalitäten nach dem frühen Scheitern Angelique Kerbers in Grenzen hielten. Auch wenn mit ihr der letztjährige Champion ging.

Relativ nüchtern hat die britische Öffentlichkeit das Zweitrunden-Aus von Titelverteidigerin Kerber zur Kenntnis genommen. Die Times legte die Niederlage der ersten deutschen Siegerin seit Steffi Graf mit dem historischen Vermerk zu den Akten, dass es in den vergangenen beiden Dekaden nur den Williams-Schwestern gelungen ist, in zwei aufeinanderfolgenden Jahren zu siegen. Ansonsten gab es genug "High Drama" auf den anderen Plätzen zu würdigen, etwa durch Andy Murray, den Liebling der Nation, der nach einer Hüftoperation das erste Doppel-Match an der Seite des Franzosen Pierre-Hugues Herbert ohne Humpeln überstand. Ohnehin werden Sieg und Niederlage im digitalen Zeitalter zackig per Live-Ticker abgefeiert.

Bei Angelique Kerber, 31, dagegen wird der Schmerz über das Match gegen die amerikanische Qualifikantin Lauren Davis, das sie überraschend mit 6:2, 2:6, 1:6 aus der Hand gab, noch eine Weile nachklingen. Sie war mit großen Erwartungen nach Wimbledon gekommen, fühlte sich wohl in dem Club, dessen Ehrenmitglied sie als Champion ist, und hatte berechtigte Hoffnungen, nach 2016 und 2018 erneut im Finale auf dem Centre Court zu stehen. Stattdessen ist sie so früh gescheitert wie seit sechs Jahren nicht mehr und wird kommende Woche, wenn die nächste Rangliste veröffentlicht wird, nicht mehr unter den zehn Besten zu finden sein. Was vermutlich zu einigen nagenden Fragen führt.

Ihre erratische Vorstellung mit 31 unerzwungenen Fehlern gegen die sechs Jahre jüngere Lauren Davis, die mit 1,57 Metern Körpergröße nicht zu den Gigantinnen des Tennis zählt, hat sie selbst mit einem plötzlichen Leistungsabfall erklärt. "Die Energie war nicht da", bekannte sie, "ich weiß nicht, warum." Auch auf Außenstehende wie Barbara Rittner, die Frauen-Verantwortliche im deutschen Tennisverband, wirkte sie im Vergleich zum Wochenanfang "gequält und gehemmt". Solche Tage gibt es, sagte Kerber, und Ritter stimmte zu: Natürlich sei das nicht der wünschenswerte Abgang gewesen. "Aber man muss akzeptieren, dass es solche Tage gibt."

Nicht aber akzeptieren konnte Angelique Kerber in den beiden Stunden auf Court Nummer 2, einer kleineren Arena am Südende der Anlage an der Church Road mit nur 4000 Plätzen - der Centre Court hat 14 000 -, dass ihr kein Mittel gegen die schnörkellosen, gradlinigen Schläge ihrer Gegnerin einfiel. Sie ist keine Taktikerin, die von sich aus gern die Initiative ergreift, ihr bestes Tennis spielt Kerber, wenn sie nicht agieren muss, sondern reagieren kann, wenn sie in die Hocke geht und Verteidigungsbälle aus fast absurden Winkeln aus dem Handgelenk schlägt. Diesmal wäre dringend eine Strategieänderung angeraten gewesen. Hilflos blickte sie mehrmals hinüber zu dem Tribünenplatz, auf dem ihr Trainer, Rainer Schüttler, saß: "Was soll ich denn machen?", rief sie einmal deutlich vernehmbar.

Offenbar gab es keinen Plan B. Und wenn er doch ausgearbeitet vorlag, dann hat die dreimalige Grand-Slam-Siegerin Kerber ihn nicht umsetzen können. Den Coach Rainer Schüttler sprach die ehemalige Fedcup-Kapitänin Barbara Rittner, die Beobachterin aus der Ferne, in dieser Situation von jeglicher Schuld frei: "An solchen Tagen", sagte sie, "macht der Trainer, der am Rand sitzt, keinen Unterschied." Aber das verhindert nicht, dass der Trainer nun mehr als zuvor ins Blickfeld rückt.

Die Bilanz fällt bisher durchschnittlich aus

Als Angelique Kerber vor einem Jahr neben der besiegten Serena Williams auf dem Rasen von Wimbledon gestanden hatte und endlich die ersehnte Silberschale ans Herz drückte, da hatte ihr erster Dank dem Mann in ihrer Box gegolten: Wim Fissette, einem Belgier, den sie in ihrer Not verpflichtet hatte, als sie im Jahr zuvor eine Formkrise durchlitt. Von Fissette trennte sie sich im Herbst 2018 abrupt und gab Schüttler das Vertrauen, einem früheren Finalisten der Australian Open. Die Bilanz dieser neuen Allianz fällt nach einem halben Jahr, an Kerbers Standard gemessen, durchschnittlich aus: Bei den Australian Open spielte sie sich bis ins Achtelfinale vor, in Paris verlor sie in der ersten, in Wimbledon in der zweiten Runde. Höhepunkte der Saison waren für die Wimbledonsiegerin zwei Finalteilnahmen in Indian Wells und vergangene Woche in Eastbourne.

An Personaldiskussionen jeglicher Art war Angelique Kerber direkt nach ihrem Matchball allerdings nicht interessiert: "Momentan bin ich nicht wirklich zufrieden", sagte sie. Aber wenn sie die halbe Saison Revue passieren lasse, "dann gab es gute und einige nicht so gute Momente".

Ehe sich das Eisentor im Londoner Vorort in diesem Jahr hinter ihr schloss, sagte sie noch, dass sie sich erholen wolle, entweder in Deutschland oder in Polen, an ihrem Wohnort. Das Schöne ist, dass sie jederzeit wiederkommen kann, weil ihr als Ehrenmitglied die Türen an der Church Road offenstehen. Auch das gehört zur Wimbledon-Tradition: Für die Club-Annehmlichkeit müssen Tennisspieler nur einmal die ausgelobte Trophäe gewonnen haben. Danach ist es ganz egal, wie oft sie bei den Championships verlieren.

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Quelle:
SZ vom 06.07.2019
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