Süddeutsche Zeitung

Mord an Kenianerin:Furchtbare Nachrichten für die globale Leichtathletik

Lesezeit: 3 min

Der Tod der kenianischen Läuferin Agnes Tirop erschüttert den Sport und weist auf ein größeres Problem hin: häusliche Verbrechen, vor allem gegen Frauen.

Von Johannes Knuth

Die Läuferin Agnes Tirop wurde am vergangenen Samstag begraben, am Tag, an dem sie 26 Jahre alt geworden wäre. Ihre letzte Ehrenrunde stand im Lichte der Trauer, wirkte aber, trotz aller Wehmut, auch wie die Feier eines erfüllten, viel zu kurzen Lebens. Hunderte Angehörige, Freunde, Athleten, darunter die Kenianerinnen Faith Kipyegon und Hellen Obiri und Weltrekordhalter Joshua Cheptegei aus Uganda, hatten sich in einem Zelt versammelt, in der Heimat von Tirops Eltern in der Nandi-Provinz.

Ein Chor sang, melancholisch, aber doch so flott, dass die Trauergemeinde wippte, manche tanzten sogar. Auf Videos ist zu sehen, wie eine Menschenschlange für den Leichenschmaus anstand, in der Mittagssonne, mehrere Hundert Meter lang. Die Reihe mehrmals abzulaufen, hätte eine schöne, schweißtreibende Trainingseinheit abgegeben.

Zwei furchtbare Nachrichten haben die globale Leichtathletik zuletzt erschüttert: die mutmaßliche Ermordung des Ecuadorianers Alex Quiñonez, des WM-Dritten über 200 Meter, dessen Heimat Guayaquil seit Wochen von Bandenkriegen zerrüttet wird. Und das mutmaßliche Verbrechen an der Kenianerin Agnes Tirop. Die 25-Jährige wurde Mitte Oktober leblos im Schlafzimmer ihrer Wohnung in Iten gefunden, jenem Ort in der Höhe Kenias, an dem schon so viele Laufdiamanten geschliffen wurden.

In Tirop, so teilte Kenias Leichtathletikverband mit, habe man einen der hellsten Juwelen verloren; eine Athletin, die nicht nur an ihren eigenen Erfolg dachte, sondern an den der Teamkolleginnen, und die trotzdem schon so viel erreicht hatte: WM-Bronze über 10 000 Meter 2017 und 2019, Platz vier zuletzt bei Olympia in Tokio über 5000 Meter. Im September hatte sie in Herzogenaurach sogar den Weltrekord über 10 Kilometer im Straßenlauf aufgestellt (30:01 Minuten), einen Monat vor ihrem Tod.

Nun ist sie erstochen worden, ihr Ehemann sitzt seit einigen Tagen in Untersuchungshaft. Und auch wenn bislang kein Verfahren eröffnet wurde, hat Tirops Fall in Kenia eine Debatte über Gewalt gegen Frauen losgetreten, die weit über den Sport hinausreicht und ihn zugleich ins Zentrum der Proteste rückt.

Kenianische Medien berichteten zuletzt, dass Tirops Ehe weit bewegter war, als es manche Vertraute mitbekommen hatten. Andere schilderten, Tirop habe erzählt, wie ihr Mann ihr gedroht habe, die Beine zu brechen und sie zu töten. Anfang Oktober war bereits Cynthia Makokha, eine junge Fußballspielerin, brutal misshandelt und ermordet worden. Auch im Mordfall der jungen Leichtathletin Edith Muthoni hatte die Polizei zuletzt den Partner verhaftet. Am Tag bevor Tirop in ihrer Heimat beigesetzt wurde, schob sich eine Gruppe aus mehreren Hundert Athletinnen durch Eldoret, auf einem Plakat stand: "Schluss mit geschlechtsspezifischer Gewalt!"

Einige Kenianer fordern die Wiedereinführung der Todesstrafe - Aktivistinnen halten davon wenig

Nancy Ikinu, die Vorsitzende der kenianischen Frauenrechtsbewegung "Fida Kenya", teilte in einem Statement mit, dass die Fälle von Gewalt gegen Frauen in Kenia zuletzt noch mal gestiegen seien. Sie forderte Kenias Präsident Uhuru Kenyatta auf, derartige Verbrechen als nationalen Notstand zu klassifizieren, um mehr Ressourcen und Aufmerksamkeit auf die Fälle zu lenken. Einige Kenianer wünschten zuletzt sogar, die Todesstrafe wieder einzuführen, Aktivistinnen wie Ikinu sehen das aber kritisch. Man müsse vielmehr aufhören, Opfer von mutmaßlichen Gewaltverbrechen erneut einem öffentlichen Verdacht auszusetzen, sagte sie, stattdessen eine Kultur des Miteinanders schaffen, in der Verdächtige gestellt werden. Oder gar nicht erst zu Tätern werden.

Häusliche Gewalt ist beileibe kein kenianisches Problem, sie wurzelt aber noch immer tief in der Gesellschaft des ostafrikanischen Landes, die stark patriarchalisch gefärbt ist. 45 Prozent aller Kenianerinnen zwischen 15 und 49 Jahren sei schon einmal "physische Gewalt" widerfahren, stellte der jüngste Bericht der Regierung fest. Er datiert von 2015. Die Täter: meistens Ehemänner oder Lebenspartner. Die Dunkelziffer, berichtete Human Rights Watch (HRW) zuletzt, sei mutmaßlich noch viel höher. In jedem Fall habe sich die Situation während der Corona-Pandemie verschärft, weil Ausgangssperren viele Familien über lange Zeit zusammenzwangen.

Betroffene schilderten in einem HRW-Bericht im September, dass sie sexuell missbraucht, geschlagen, aus dem Haus geworfen oder zwangsverheiratet wurden. HRW kritisierte, dass es im Land massiv an Schutzeinrichtungen mangele, in denen Frauen Zuflucht finden können. Viele trauten sich auch nicht, ihre Fälle bei den Behörden anzuzeigen, da sie glaubten - oft zurecht -, dass ihnen nicht geholfen werde, und wenn doch, nur gegen Schmiergeldzahlungen. Kenias Regierung habe zwar zuletzt einige Reformen angeschoben, so der HRW-Bericht, doch die Forscher gossen die Bemühungen der Politik in ein düsteres Fazit: zu wenig, zu spät.

In afrikanischen Gesellschaften war das in den vergangenen Jahren erst allmählich ein vertrauteres Bild: dass nicht nur Männer ihre Familien durchs Laufen in ein besseres Leben führen, sondern auch die Frauen. Tirop habe viele Hoffnungen - und Rechnungen - der Familie getragen, sagte ihr Vater zuletzt kenianischen Medien. Die Dänin Katrine W. Kjaer hatte erst im vergangenen Jahr einen Dokumentarfilm veröffentlicht ("Run like a girl"), der die Läuferin Visiline Jepkesho begleitet, die ihre Familie aus der Armut befreien will.

Der Film zeigte Zwänge und Sorgen, er zeigte aber auch, wie hoffnungsvoll die nächste und übernächste Generation zu Läuferinnen wie Jepkesho aufschaut. In einer Szene sagt die jüngere Schwester der Athletin: "Früher wäre ich zu diesem Zeitpunkt in meinem Leben wohl verheiratet gewesen. Jetzt bin ich in der Schule und hoffe, dass ich später selbst einmal Lehrerin sein kann. Bis 2030 werden wir Frauen in Kenia regieren, ihr werdet schon sehen!"

Der Tod von Agnes Tirop ist da auch eine schmerzliche Erinnerung: wie steinig der Weg bis dorthin ist.

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