Süddeutsche Zeitung

Haaland und Can:Zwei Mentalitätsbolzen

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Von Freddie Röckenhaus, Dortmund

Es waren erst ein paar Minuten gespielt, und die ersten Fetzen der goldenen Plastikfolien von der Fan-Choreo flatterten gerade im Wind durchs Stadion, als Emre Can in der Nähe der Mittellinie einem gewissen Neymar den ersten Vorgeschmack darauf gab, womit der brasilianische Starfußballer von Paris St. Germain an diesem Abend zu rechnen hatte. Dortmunds Winter-Einkauf wuchtete Neymar von den Beinen, reklamierte anschließend beim Schiedsrichter noch gegen den Pfiff wegen Foulspiels, und schließlich ging Can noch einmal zu dem am Boden liegenden Neymar, um ihm ein paar passende Worte zuzuflüstern. Freundlich werden diese Worte nicht gewesen sein, egal in welcher Sprache, und eine Entschuldigung hat Neymar sicher auch nicht zu hören bekommen. Eher einen Hinweis auf das, was da im Laufe des Spiels noch kommen würde.

Das 2:1 (0:0) von Borussia Dortmund im ersten Champions-League-Achtelfinale gegen das schillernde, von Katar finanzierte Star-Ensemble aus Paris folgte genau jenen Zeichen, die einer wie Can setzen kann. PSG-Trainer Thomas Tuchel, bis 2017 auch zwei Jahre beim BVB unter Vertrag, zog nach dem Spiel ein ausführliches Fazit der Niederlage, mit dem knappen Schlüsselwort: "Körperlichkeit". Wann jemals sind Dortmunds fußballerische Feingeister für überlegene, in Grenzfällen auch rabiate Körperlichkeit gelobt worden? Aber es stimmte: Der Favorit Paris war dem BVB bei physischen Kernfaktoren unterlegen an diesem Abend - und der Auftritt der Dortmunder schien auch keine Ausnahme zu sein, sondern die Bestätigung einer Trendwende, die beim 4:0 gegen Eintracht Frankfurt begann. Der aus Turin geholte Emre Can, der in guten Momenten an die ungestüme Wucht eines Lothar Matthäus oder Stefan Effenberg erinnert, dürfte in Dortmund ebenso für einen Philosophie-Wechsel stehen wie vorne im Sturm Erling Haaland. Der 19-Jährige wuchtete den Ball vor allem beim zweiten seiner beiden Treffer mit einer Urgewalt ins Netz, dass man sich die Augen reiben musste. Ist das jetzt die neue Borussia? Rustikale Balleroberung im Mittelfeld - und dann brachiales, aber dennoch technisch feines Ballern im Abschluss?

An diesem windigen Abend in Dortmund konnte man den Eindruck bekommen, dass sie beim BVB in der Weihnachtspause einen Beschluss gefasst haben müssen: dass jetzt Schluss mit lustig ist. Can und Haaland, beide zusammen für rund 45 Millionen Euro in der Winter-Transferperiode nach Dortmund gelotst, sind offensichtlich genau jene Typen, die man für so eine stilistische Kehrtwende braucht. Quasi zwei Transfers vom Reißbrett.

Beide haben neben individueller Klasse auch eine offensichtliche Strahlkraft auf ihre Nebenleute. Wer je Fußball gespielt hat, der weiß, dass physische Spieler wie Can und Haaland beinahe zwangsläufig auch bei ihren Mitspielern eine andere Haltung provozieren. Dortmund war schon mal vor eineinhalb Jahren auf einer Einkaufstour mit dem erklärten Ziel, "die Mentalität zu ändern". Damals holte der BVB Typen wie Axel Witsel und Thomas Delaney. Doch erst jetzt, in diesem Winter, scheint das Kalkül wirklich aufzugehen - mit den Mentalitätsbolzen Can und Haaland. Dass zwei neue Spieler so viel Unterschied ausmachen können, ist frappierend.

Gegen Paris half dem BVB auch, dass Tuchel seine Mannschaft auf ein eher ungewohnt abwartendes Auftreten eingestellt zu haben schien - zu passiv wirkte PSG, fast so, als wollte man vor allem ein 0:0 aus Dortmund mitnehmen. Vor der Offensivkraft der Borussia hatte Tuchel schon vorab gehörigen Respekt gezeigt. Aber die ungewohnte neue Dortmunder Biestigkeit in Zweikämpfen hatten viele der eleganten Pariser Kicker wohl nicht erwartet. Spielt der BVB in drei Wochen in Frankreichs Hauptstadt ebenso aggressiv wie vor eigener Kulisse, dann dürfte es schwer werden für die Pariser, in der Champions League endlich mal wieder weiter zu kommen als bis ins Achtelfinale. Denn die PSG-Defensive genießt auch nicht den Ruf, gegen die Sturmlawine von Dortmund ganz ohne Gegentor durch ein Spiel kommen zu können. Allerdings muss sich das Duo Can/ Haaland erst einmal auswärts beweisen. Beim 3:4 in Leverkusen klappte die Balance zwischen Offensive und Defensive noch nicht reibungslos.

Erling Haaland brauchte trotz der Pariser Defensivwackler am Dienstagabend mehr als eine Stunde, bis er einen abprallenden Schuss von Raphael Guerreiro mit Knipser-Instinkt unters Tordach drückte. Minuten später leistete sich der ansonsten exzellente Lukas Piszczek seinen einzigen Patzer, der BVB-Verteidiger ließ den sonst enttäuschenden Neymar in seinem Rücken laufen und das 1:1 erzielen. Kurz danach folgte allerdings der zweite, entscheidende Auftritt von Haaland. Der junge Norweger wurde vom erst 17- jährigen Kollegen Giovanni Reyna exzellent freigespielt und knallte den Ball mit dem linken Fuß wie einen Strahl ins Netz. Dieses 2:1 war Haalands zehntes Tor in der laufenden Champions-League-Saison. Im Herbst hatte er schon acht Treffer für seinen früheren Klub RB Salzburg erzielt - Haaland ist damit der beste Torschütze der Königsklasse, mit 19 Jahren.

Dieses Blitzlicht des Spiels ließ allerdings vergessen, dass Dortmund keineswegs am eigenen spielerischen Limit agiert hatte. Es klappte weniger als zuletzt, auch bei Künstlern wie Jadon Sancho, und es schien fast so, als sei die Balance zwischen der massiv erhöhten Zweikampf-Aggression und der spielerischen Kreativität der Elf noch nicht so richtig gefunden. Zwei-, dreimal gelangen Dortmund in der zweiten Halbzeit jene spektakulären Spielzüge, für die der BVB steht, das reichte an diesem Abend. Doch fürs Rückspiel und für den Rest dieser Bundesliga-Saison wird Trainer Lucien Favre noch manches neu austarieren müssen. Bisweilen wirkte es am Dienstag so, als sei nicht nur Tuchel von der plötzlichen Wucht im Dortmunder Spiel überrascht, sondern auch Favre.

Dessen eigentliche Spielidee lässt sich am ehesten als filigran und samtpfötig beschreiben. Nicht gerade Begriffe, die einem bei den Stars des Abends, Haaland und Can, einfallen. "Wir haben unheimlich gut zusammen verteidigt", betonte Can nach dem Spiel, "wenn wir so zusammenhalten, sind wir für keine Mannschaft der Welt leicht zu schlagen." Auch verbal setzte Can seine Zweikampfstärke fort.

Für geschätzte 25 Millionen Euro hat Dortmunds Sportchef Michael Zorc den Nationalspieler, gebürtig aus Frankfurt und ausgebildet beim FC Bayern, bei Juventus Turin losgeeist. Can stand schon länger bei der Borussia unter Beobachtung. Man hat sich lange geziert, die Wuchtbrumme zu holen. Aber zu spät war es noch nicht.

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Quelle:
SZ vom 20.02.2020
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