Süddeutsche Zeitung

Gladbacher Debakel:Eine Halbzeit auf dem Weg in die Hölle

Lesezeit: 3 min

Sechs Gegentore in den ersten 37 Minuten: Gladbach bietet gegen Freiburg ein Bild des Schreckens. Trotz dieses Bundesliga-Negativrekords darf sich Trainer Adi Hütter vorerst sicher fühlen.

Von Ulrich Hartmann

Um 2.15 Uhr wurde in der Nacht zum Montag in Mönchengladbach tatsächlich auch noch ein Geldautomat gesprengt, aber damit haben die Fußballer vom SC Freiburg nichts zu tun. Für diese Uhrzeit besitzen sie ein Alibi. Geständig und sogar stolz zeigen sie sich indes hinsichtlich eventueller Anklagen, am Vorabend die Hintermannschaft von Borussia Mönchengladbach gesprengt zu haben. Sechs Mal schlug es bis zur 37. Minute im Tor ein. So kunstvoll zelebrierten die Schwarzwälder ihren 6:0-Triumph am Niederrhein, dass ihnen der Sonderpreis des Deutschen Sprengverbands e. V. gebührt. "Jeder Schuss ein Treffer", sagte der überwältigte Freiburger Trainer Christian Streich mit zitternder Stimme, "so was habe ich noch nie erlebt."

Diese Feststellung gilt aus anderem Blickwinkel auch für ein Gladbacher Trio, das allerdings binnen zweieinhalb Jahren nun schon zum dritten Mal in einen Orkan geraten ist. Der Torwart Yann Sommer und die Innenverteidiger Matthias Ginter und Nico Elvedi waren schon am 19. September 2019 involviert, als Gladbach in der Europa League gegen den Wolfsberger AC aus Österreich nach 41 Minuten mit 0:3 hinten lag. Endstand: 0:4.

Am 30. März 2019 befanden sie sich bei Fortuna Düsseldorf sogar schon nach 16 Minuten mit 0:3 in Schieflage, Endstand 1:3. Und am Sonntagabend dröhnte ihnen erst recht der Schädel, als sie nach nur zwölf Minuten mit 0:3 zurücklagen. Diesmal aber wurde es sogar noch schlimmer. Das 0:6 nach 37 Minuten war Bundesliga-Rekord. Allerdings war das dann auch der Endstand und als solcher keinen Eintrag mehr in die Liga-Annalen wert.

Sportdirektor Eberl fühlt sich an ein anderes Debakel erinnert: "Es war wie gegen Wolfsberg."

Vom mitunter angriffslustigen Gladbacher Sportdirektor Max Eberl hätte man nun ein veritables Donnerwetter erwarten können, doch sein Sturm der Entrüstung war nur ein laues Lüftchen. Eberl wirkte nach der Blamage erstaunlich milde und sagte: "Es war surreal, so ähnlich wie gegen Wolfsberg."

Nun ist der Surrealismus eigentlich aus der Kultur bekannt, als man vor hundert Jahren in Paris begann, in Literatur und Malerei symbolhaft das Unbewusste und Traumhafte einfließen zu lassen. Diese Kunstrichtung hat nun endgültig ihren Weg in den Gladbacher Fußball gefunden. Der am Sonntag zu einer weißen Leinwand erblasste Adi Hütter ist nämlich nicht der erste Trainer, auf den Borussias Spieler albtraumhafte Bilder projizierten. Auch seine Vorgänger Dieter Hecking und Marco Rose machten bei den frühen 0:3-Rückständen in Düsseldorf und gegen Wolfsberg ihre Erfahrungen mit dem niederrheinischen Grauen.

Bei Hecking war es im März 2019 so, dass die Borussia zwei Tage später die Trennung zum Saisonende verkündete. Mit dem Debakel in Düsseldorf hatte das allerdings nur bedingt zu tun, sondern eher damit, dass Eberl zum selben Zeitpunkt den Trainer Rose verpflichten konnte. Das Debakel gegen Wolfsberg nur zweieinhalb Monate nach seinem Amtsantritt hatte für Rose wiederum keinerlei Auswirkungen, und auch vom Trainer Hütter wird sich die Borussia nach dem 0:6 nicht trennen.

Eine Woche nachdem bei Hertha BSC der Trainer Pal Dardai entlassen worden war und am selben Tag, an dem sich RB Leipzig von Jesse Marsch trennte, stellte Eberl zweifelsfrei klar, dass man Hütter nicht anzweifeln werde. Auf die Frage nach der "weiteren Zusammenarbeit" sagte Eberl im Dazn-Interview: "Wenn nach zwei Niederlagen schon generelle Fragen gestellt werden, kann ich mich damit nicht identifizieren. Man entscheidet sich für etwas, und das heißt dann auch, durch dick und dünn zu gehen und nicht sofort etwas zu verändern."

Dabei bedarf es durchaus der Veränderungen im Gladbacher Kader, aber da geht es eher um mentale Stabilität. Auffällig und ein bisschen verräterisch sind für die launische Mannschaft die fußballerischen Höhen wie beim 1:0 gegen Dortmund und beim 5:0 im Pokal gegen Bayern München vor ja gerade mal sechs Wochen. In Heimspielen gegen Topklubs holte man alles heraus. Dem gegenüber stehen allerdings Leistungen wie beim 0:1 in Augsburg, beim 0:1 bei Hertha BSC und jetzt beim 0:6 gegen Freiburg, bei dem die Borussia erstmals unter Hütter im heimischen Stadion abstürzte.

Solch ein führungsloser Niedergang wirft ein Licht auf die diffuse Hierarchie der Mannschaft

Während der 37-minütigen Höllenfahrt gab es keinen Spieler, der die Notbremse gezogen und alle anderen um sich geschart hätte. Ein derart führungsloser Niedergang wirft ein Licht auf die diffuse Hierarchie, innerhalb derer auch so bedeutsame Spieler wie Matthias Ginter und Denis Zakaria mit ihren auslaufenden Verträgen keine Konturen zu setzen vermögen. In Lars Stindl und Christoph Kramer hatte der Trainer zwei andere, die das auch könnten, aber auf die Bank gesetzt.

"Nicht akzeptabel" nannte Hütter hernach zwar die Leistung seiner Mannschaft, verschwieg aber entsprechende Details. Er zog auch niemanden namentlich zur Verantwortung und nutzte seine TV-Auftritte vor allem, um sich bei den Fans "zu entschuldigen".

Nach dem 1:4 im Prestige-Derby in Köln und diesem 0:6 gegen Freiburg ist die Borussia vorläufig am Tiefpunkt einer wechselhaften Saison angelangt. An dieser Weggabelung zeigen die kommenden Aufgaben erst am Samstag in Leipzig und dann gegen Hütters Ex-Verein Frankfurt sowie anschließend gegen die Top-fünf-Teams Hoffenheim, München und Leverkusen, wohin der Weg führt. Spätestens dann werden die Gladbacher auch eine Ahnung davon haben, ob sie noch vom internationalen Geschäft träumen dürfen. Sollte die Europa League dann endgültig außer Reichweite geraten sein, würde Max Eberl bestimmt noch mal nach dem Trainer gefragt werden.

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