Fußball-WM:Weshalb Merkel nach Russland fliegen sollte
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Das WM-Turnier darf nicht politisch überfrachtet werden. Doch die deutsche Kanzlerin Angela Merkel sollte die Gelegenheit nutzen und klare Worte gegenüber Wladimir Putin finden.
Kommentar von Josef Kelnberger
Es gibt viele Menschen, auch durchaus seriöse, die ihr Leben im Rhythmus von Fußball-Weltmeisterschaften gliedern. Sie freuen sich wie Kinder darauf, alle vier Jahre in eine Seifenoper eintauchen und alle Sorgen ausblenden zu können, die Klimakatastrophe, den Rechtspopulismus. Sie lernen Namen von Fußballstadien entfernter Länder auswendig, interessieren sich nicht nur fürs eigene Team, sondern auch für die "falsche Neun" von Panama oder den "Staubsauger" Senegals. Doch darf man sich freuen auf so ein Turnier, wenn es ausgetragen wird in einem Land, das durch einen völkerrechtswidrigen Krieg einen Teil der Welt ins Unglück gestürzt hat, das regiert wird von einem Präsidenten, der sich wichtiger nimmt als Recht und Gesetz, der im eigenen Land die Mehrheit gegen Minderheiten aufwiegelt und seinen Willen anderen Staaten aufzwingen will?
Die Rede ist von den USA, denen der Fußballweltverband Fifa vermutlich kommende Woche das Turnier 2026 zusprechen wird, gemeinsam mit Mexiko und Kanada. Donald Trump wird dann nicht mehr Präsident sein, aber ist das wirklich ein Trost? Als Zyniker könnte man sagen: Die Menschen sollten schon deshalb die am Donnerstag beginnende Weltmeisterschaft in Russland genießen, weil Staatenlenker vom Schlage Trumps und Wladimir Putins die Welt noch vor der folgenden WM ins Chaos stürzen könnten. Die europäischen Politiker sollten jedenfalls die Moskauer Bühne nutzen, um mit Putin zu reden. In einer Welt, die gefährlich geworden ist wie seit dem Ende des Kalten Kriegs nicht mehr, kann das zumindest nicht schaden.
Freiheit, Demokratie und Menschenrechte zählen wenig in Russland
Natürlich gibt es gute Gründe, die Putin-WM für eine Farce zu halten. Werte wie Freiheit, Demokratie und Menschenrechte zählen wenig in Russland. Putin hat die Krim annektiert, führt einen schmutzigen Krieg in der Ostukraine, steckt vermutlich hinter Mordanschlägen im Ausland, versucht mittels seiner Geheimdienste, andere Länder zu manipulieren. Die Fifa führt zwar nicht so hohe Ideale im Mund wie das Olympische Komitee, dennoch dürfte der Verband, gemessen an den eigenen Prinzipien, keine WM in Russland austragen. Aber Fifa - das ist ein Synonym für Korruption. Die Funktionäre sind, unter dem Deckmantel der "Autonomie des Sports", auf der Suche nach immer neuen Geldquellen. Deshalb wird die WM 2022 bei den Scheichs in der Wüste von Katar zu Gast sein. Es ist der Gipfel der Farce.
Umstritten ist, wie sich die westliche Welt zu solchen Spektakeln verhalten soll. Forderungen nach einem Boykott sind kaum noch zu hören, das Thema hat sich seit 1980 erledigt. Unter dem Druck der USA blieben damals einige westliche Länder, darunter Deutschland, den Olympischen Spielen in Moskau fern, als Strafe für die Invasion der sowjetischen Truppen in Afghanistan. Das hat, außer zu einer weiteren Verhärtung, zu nichts geführt. Mehrere Dutzend EU-Abgeordnete fordern nun, Europas Regierungschefs sollten Putin meiden; Angela Merkel solle, nach dem Beispiel der Britin Theresa May, nicht zur WM fliegen. Die Motive sind ehrenwert, doch die Frage bleibt: Was bringt es, außer einem verbitterten Putin?
Die Fußballshow mag der Eitelkeit eines Autokraten schmeicheln, aber seine Regentschaft hängt nicht davon ab; viel weher tun ihm Wirtschaftssanktionen. So eine Fußball-WM ist, bei allem Hype, schnell vergessen. Als die aus Weißen, Schwarzen und Muslimen bestehende französische Mannschaft 1998 im eigenen Land den Titel gewann, glaubten viele, die Nation habe eine neue, multikulturelle Identität gewonnen. Die Wirkung war bald verpufft. Das von schwarz-rot-goldenen Massen geprägte "Sommermärchen" 2006 schien eine aufgeklärte Form des Patriotismus zu fördern; doch schon Monate später ergaben Umfragen: Die Deutschen schätzen ihren Nationalfeiertag weiterhin vor allem als arbeitsfreien Tag. Die WM-Vergabe nach Deutschland riecht mittlerweile nach Korruption. Deshalb wäre ein wenig moralische Demut angebracht, auch wenn Korruption nicht mit Menschenrechtsverletzungen verglichen werden kann.
Angela Merkel sollte bewusst als eine Anführerin Europas nach Russland fliegen. Sie sollte dem russischen Volk Respekt zollen, aber auch klarmachen, was Russland vom Westen trennt, indem sie die Freilassung politischer Gefangener anmahnt, und zum Beispiel, an Flug MH 17 erinnert - an die 298 Kinder, Frauen und Männer, die am 17. Juli 2014 in der Ostukraine wohl von einer russischen Rakete aus dem Himmel gerissen wurden. Auf einen Neustart der deutschen-russischen Beziehungen wagt man nicht zu hoffen, aber: Bei den Olympischen Winterspielen in Pyeongchang wurde die Annäherung Nord- und Südkoreas eingeleitet.
Mittlerweile werden die Profis diplomatisch geschult
Von den deutschen Fußballern sollte man, wie von allen anderen, keine politischen Botschaften erwarten. Vermutlich ist das politische Bewusstsein der Spieler nicht viel weiter entwickelt als vor 40 Jahren beim moralischen Bankrott in Argentinien, wo eine Militärjunta neben den Stadien ihr blutiges Werk verrichtete und kein Wort der Empörung zu hören war. Mittlerweile werden die Profis diplomatisch geschult, aber ihre Ausdrucksform ist das Spiel. Es handelt sich um junge Männer, deren Leben sich größtenteils um Fußball dreht - und die dafür oft mit wahnwitzigen Summen entlohnt werden.
Diese genialen Ronaldos, Neymars, Messis, Özils - hoch bezahlte Wanderarbeiter - leben in ihrem Kosmos, doch ihre Art zu spielen strahlt auf die ganze Welt ab. Ob individuelle Technik oder Mannschaftstaktik, ob Gesten von Jubel oder Verzweiflung - der Fußball hat eine universale Sprache und Ästhetik entwickelt. Ob er damit völkerverbindende Wirkung entfaltet? Das ist die vage Hoffnung, mit der man sich auch auf eine WM in Russland freuen mag. Ansonsten kann man so eine WM genießen wie Alexander Gersts Raumfahrt: absurd teuer, weitgehend sinnfrei, aber doch irgendwie ergreifend.