Süddeutsche Zeitung

Deutschland-Gegner Spanien bei der WM:Traum aus 1003 Pässen in einer Nacht

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Eine Gruppe, die auftritt wie ein Klubteam: Nach dem 7:0 gegen Costa Rica könnte das Grundvertrauen des spanischen Nationalteams in die eigenen Fähigkeiten größer kaum sein - schlechte Nachrichten für das deutsche Team.

Von Javier Cáceres, Doha

Am Donnerstagmorgen herrschte, welch Überraschung, beste Laune im spanischen Lager. Doch nichts ließ Marco Asensio, einer der sechs Torschützen beim 7:0-Sieg gegen Costa Rica vom Mittwochabend, stärker und verlegener giggeln als die eigene Schlussbemerkung. Als er auf dem Podium saß, hatte er sich von einer Plattitüde zur nächsten gehangelt, bis er - kicher, kicher - bei einer Erkenntnis angekommen war, der nicht zu widersprechen war. "... und die Wahrheit ist", sagte Asensio: "Wir spielen echt gut Fußball."

Das ist dermaßen wahr, dass jede Sorge um das Fortkommen der deutschen Mannschaft bei der Weltmeisterschaft in Katar berechtigt ist.

Zwar dürfte klar sein, dass "Costa Rica nicht gerade Pelés Brasilien" ist, wie die Zeitung El País am Donnerstag schrieb. Aber auch bescheidene Teams muss man erst mal auseinanderschrauben, und den Spaniern gelang das auf brillante Art. Das Spiel gegen die Mittelamerikaner war ein Traum von 1003 angekommenen Pässen in einer Nacht - was umso beeindruckender ist, wenn man sich vor Augen führt, dass sie 1061 Pässe insgesamt spielten. "Wir haben in der Kabine gefeiert, aber zurückhaltend", sagte Carlos Soler, 25, offensiver Mittelfeldspieler bei Paris Saint-Germain und Schütze des vorletzten Treffers, als er am Donnerstag im ärmellosen Trainingsshirt und kurzen Hosen in einem Konferenzsaal saß, den der Verband im Pressezelt des Trainingsgeländes eingerichtet hat. "Und dann haben wir die Kabine aufgeräumt. Nicht ganz so wie die Japaner. Aber fast", scherzte Soler, ehe er die 90 Minuten gegen Costa Rica noch einmal Revue passieren ließ.

"Wir wollten genau so starten: stark, mit Toren, mit Intensität, Ballgeschwindigkeit. Gegner hassen das."

"Die erste Halbzeit war... pffff!", sagte Soler und brach den Satz ab, um die richtigen Wort zu suchen: "Ich habe es auf der Bank genossen." Auf der Bank deshalb, weil er nicht in der Startelf war, sondern erst in der zweiten Hälfte eingewechselt wurde. Überrascht vom Niveau sei er freilich nicht gewesen, beteuerte Soler. Denn alles, was man sah, habe sich in den Tagen vor dem WM-Debüt im Training abgezeichnet: "Wir wollten genau so starten: stark, mit Toren, mit Intensität, Ballgeschwindigkeit - und schnellen Rückeroberungen bei Ballverlust. Gegner hassen das. Ich kenne das von Spielen gegen dominante Mannschaften. Es verursacht Ohnmacht. Und ermüdet dich", sagte Soler.

Er widersprach energisch, wenn man ihm mit Blick aufs Spiel gegen Deutschland sagt, dass Spanien noch zwei Schuss frei habe: "Ich sage: Wir haben nur noch eine Kugel. Wir dürfen nicht auf eine zweite warten. Denn wenn wir gewinnen, sind wir durch, Deutschland draußen, und das ist auch wichtig." Um sie loszuwerden? "Klar. Nichts gegen das deutsche Team. Aber es ist eine starke Mannschaft! Und wenn wir die Chance haben, sie rauszuwerfen, müssen wir sie nutzen", erklärte Soler.

Zumal sie den letzten Gruppengegner Japan ganz gut kennen und nicht erst seit dem 2:1-Sieg der Asiaten gegen Deutschland wissen, wozu sie imstande sind. Der Respekt ist hoch, weil Japan die Spanier bei den Olympischen Spielen von Tokio im Halbfinale in die Verlängerung zwang; seinerzeit erlöste Asensio den späteren Silbermedaillengewinner von Höllenqualen: "Die hören nie auf zu arbeiten und sind sehr intensiv - und sehr diszipliniert", sagte Soler und meint damit, dass es besser ist, sich nicht auf das dritte und letzte Gruppenspiel zu verlassen.

Die Tage, als Spanien auf die Deutschen wie ein Ungeheuer blickte, sind vorbei

Andererseits: Das Grundvertrauen in die eigenen Fähigkeiten könnte größer kaum sein. Wie sollte es auch anders wirken nach dem höchsten Sieg der spanischen WM-Geschichte? Neben Asensio (21. Minute) und Soler (90.) steuerten der Leipziger Dani Olmo (11.), der 18-jährige Gavi (74.), Ferran Torres (31./54.) sowie Álvaro Morata (90.+2) Tore bei. Diese Diversität an Torschützen war unter anderem deshalb auffällig, weil Luis Enrique, der Trainer, wieder einmal auf einen "echten" Neuner verzichtete - und es natürlich auch in Spanien die Frage gibt, ob man mit einem echten Neuner nicht besser bedient ist.

"Wir haben vielleicht keinen Spieler, der 30 Tore macht. Aber wir haben viele Spieler, die Tore schießen können. Wir kommen im Verbund zum Tor", sagte Luis Enrique im Pressesaal des Al-Thumama-Stadions. Im Team gibt es allerdings keine Diskussionen, sondern lauter Stimmen, die dem Chef sekundieren. "Wir haben vielleicht keinen Star, der über allen anderen steht wie Mbappé , Leo (Messi) oder Neymar", sagte Soler, der mit den drei Tenören des Weltfußballs bei PSG spielt. Doch das ficht ihn nicht an: "Das Wort, das mir am meisten gefällt, wenn von uns die Rede ist, lautet: choral. Unsere Performance ist choral. Sie kommt von der ganzen Gruppe." Einer Gruppe, die auftritt wie ein Klubteam.

Was seine Gründe hat, oder einen: Luis Enrique. Soler wurde berufen, obschon er seit seinem Wechsel zu PSG enorm viel auf der Bank saß. Er hatte sich seine Meriten vorher erworben, in der Vorbereitung zur EM 2021. "Ich war in der Corona-Bubble, unter den Spielern, die einspringen sollten, falls jemand mit Covid ausfiel", sagte er. "Da hat Luis Enrique mich kennengelernt - und Dinge gesehen, von denen er meinte, sie könnten der Nationalmannschaft helfen. Er sagt uns das immer wieder: Er achte stärker auf das, was wir im Training der Nationalmannschaft machen, denn auf das, was wir in den Klubs leisten. Denn dort spielen wir anders als hier."

Wie die Spanier in der Nationalelf und bei der WM spielen? "Superlativ", sagte Costa Ricas geknickter Trainer Luis Fernando Suárez. Sein Kollege Luis Enrique hielt sich quasi die Ohren zu. Denn: "Lob schwächt." Und überhaupt: Es könne ja auch passieren, dass Deutschland gewinnt, "das kann passieren", sagte er. Aber dann werde das sicher nicht darauf zurückzuführen sein, dass seine Mannschaft sich zurücklehnt. Sondern auf die Qualität der deutschen Mannschaft.

Nur, die Tage sind vorbei, da man auf die Deutschen wie ein Ungeheuer blickte. Das 6:0 von Sevilla vor zwei Jahren hat in Spanien niemand vergessen, ebensowenig den Sieg im EM-Finale von 2008 oder das Weltmeisterschaftsjahr 2010, als Spanien Deutschland aus dem Turnier warf durch ein Kopfballtor von Puyol nach einem Eckball von Xavi. Er habe das damals in Peníscola, in der Nähe von Valencia gesehen, im Sommerurlaub mit den Großeltern, Tanten und Onkeln. "Ich habe noch Fotos von dem Tag, wie wir danach in den Pool gesprungen sind, meine Tante Mari Carmen hat sie mir vor ein paar Tagen geschickt", sagte Soler. "Schau, und jetzt spielst du gegen sie, hat sie dann gesagt..." An diesem Sonntag, wie gesagt.

Man werde intelligent sein müssen, "die Kontrolle über das Spiel an uns ziehen, den Ball bewegen" - und ja, auch dies: mit einem Faktor spielen, von dem Deutschland nach der Pleite gegen Japan genug haben dürfte. Er nennt sich: Angst.

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