Süddeutsche Zeitung

Ukraine in der WM-Qualifikation:Als spiele das ganze Land

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"Die Ukraine lebt noch immer": Mitten im russischen Angriffskrieg kämpft die ukrainische Nationalelf in Schottland um die WM - der bekannteste Profi spricht unter Tränen von einem Traum, aber es ist auch ein politischer Auftrag.

Von Johannes Aumüller

Vor einem Jahr hat sich der ukrainische Staatspräsident Wolodimir Selenskij höchstselbst mit einem Trikot der heimischen Nationalmannschaft präsentiert. Und es war offenkundig nicht nur seine Liebe zum Fußballsport, die ihn dazu veranlasste, sondern auch ein politisches Motiv. Passend zur EM gab es damals ein neues Shirt für die Nationalelf, und das streifte sich auch Selenskij über, Rückennummer 95, wegen der Produktionsfirma Kwartal 95, bei der die Comedy-Serie "Diener des Volkes" entstand, durch die er landesweit populär wurde und schließlich ins Präsidentenamt kam.

Aber wichtiger als die Zahl waren andere gestalterische Elemente auf dem Trikot. Da waren nämlich die Losungen "Slawa Ukrajini" (Ruhm der Ukraine) und "Herojam Slawa" (Den Helden Ruhm) eingestickt, und zu sehen war eine Silhouette der Landesgrenzen - inklusive der von Russland annektierten Halbinsel Krim. Russische Politiker schäumten damals, die Uefa bat um eine Entfernung des Helden-Satzes, und auch Selenskij meldete sich Wort. Auf dem Trikot seien "einige wichtige Symbole, die die Ukrainer von Luhansk bis Uschhorod, von Tschernihiw bis Sewastopol vereinen", sagte er: "Unser Land ist vereint und unteilbar."

Schon damals war also die Botschaft, dass die ukrainische Nationalmannschaft ein Symbol für die Einheit des Landes darstellen soll. Und das gilt inzwischen, mitten in der russischen Invasion, umso mehr. In den nächsten Tagen kann sich die Mannschaft von Nationaltrainer Oleksandr Petrakow für die WM qualifizieren: Am Mittwoch spielt sie in Glasgow gegen Schottland, für den Sieger steht am Sonntag gegen Wales das finale Duell um ein WM-Ticket an. Und wenn man die Äußerungen der Beteiligten vor der Partie sieht, wird überdeutlich, welche besondere und politische Bedeutung sie der Qualifikation zumessen - als spiele das ganze Land.

Zwischenzeitlich gab es sogar Diskussionen um ein Freilos. Das wollten die Ukrainer selbst nicht

"Die Ukraine lebt noch immer. Die Ukraine wird bis zum Ende kämpfen. Das ist unsere Mentalität. Wir geben niemals auf", sagte Defensivspieler Oleksandr Sintschenko, der Vorzeigespieler des Teams, der kürzlich mit Manchester City den Titel in der Premier League gewann. Der 25-Jährige aus der Nähe von Schytomyr berichtete auf der Pressekonferenz vor der Partie gegen die Schotten unter Tränen vom Traum, mit seinem Land die WM zu erreichen.

Dies sei eines der wichtigsten Spiele seines Lebens, und er könne allen Ukrainern versprechen, dass jeder alles gebe, um ihnen "so für ein paar Sekunden ein Lächeln zu schenken". In eine ähnliche Richtung äußerte sich der Nationaltrainer Oleksandr Petrakow. "Das ist eine große Verantwortung", sagte der 64-Jährige, der sich nach dem Überfall Russlands eigentlich für den Freiwilligendienst melden wollte, dann aber abgewiesen wurde: Er solle seinen Dienst fürs Land an anderer Stelle tun, lautete der Ratschlag.

Dass diese Qualifikation derart emotional aufgeladen sein würde, war nach dem Beginn des Krieges gar nicht abzusehen. Damals sagte selbst Trainer Petrakow, er könne angesichts der Situation verstehen, wenn sich kein Mensch für Fußball interessiere. Die Playoff-Spiele, eigentlich für März terminiert, wurden erst einmal vertagt. Und bisweilen wurden gar Überlegungen debattiert, ob es nicht ein WM-Freilos geben sollte. Die Ukrainer selbst lehnten das ab. "Wir haben Hände, Füße und ein Fußballfeld. Wir müssen dort alles lösen", sagte Andrej Jarmolenko, der 2017/18 mal für eine Saison bei Borussia Dortmund spielte und seitdem bei West Ham United unter Vertrag steht.

Nur ein paar im Ausland unter Vertrag stehende ukrainische Profis haben zuletzt regelmäßig gespielt

Aber die militärische Situation hat sich gewandelt, und damit auch der Blick auf den Fußball. So diskutieren die Klubfunktionäre bereits, ob nach dem Abbruch der Meisterschaft im Februar im August wieder eine neue Ligarunde starten kann. Angeblich befürworte das auch Präsident Selenskij, streuen sie. Aber als Erstes soll nun die Nationalmannschaft einen besonderen Moment erzeugen.

Noch selten dürfte es ein internationales Qualifikations-Match gegeben haben, bei dem sich eine Mannschaft so vieler Sympathien bewusst sein durfte. Aber leicht wird es nicht. Nur ein paar im Ausland unter Vertrag stehende Profis wie Sintschenko, Jarmolenko oder Angreifer Roman Jaremtschuk (Benfica Lissabon) haben zuletzt regelmäßig gespielt.

Das Gros des Kaders mit Akteuren von Dynamo Kiew und Schachtjor Donezk musste seit Februar pausieren. Erst im vergangenen Monat versammelte Petrakow seine Spieler für ein Trainingslager und ein paar Testkicks, unter anderem gegen Borussia Mönchengladbach, die ihm aber nur bedingt Erkenntnisse brachten. Auch ist es für viele Spieler eine belastende Situation, um das WM-Ticket zu spielen, während in der Heimat Familienangehörige und Freunde in Not sind und es in der Ostukraine weiter heftigen Beschuss gibt.

"Aber in diesem Fall gibt es keine Ausreden", sagt Kapitän Sintschenko. Und Trainer Petrakow meint: "Schottland? Nach den Raketen und den Bomben fürchten wir nichts mehr."

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