Süddeutsche Zeitung

Iran bei der Fußball-WM:Tonlos bis zum bitteren Ende

Lesezeit: 3 min

Iran siegt 2:0 gegen Wales, aber in den Augen der Reformbewegung kann diese Mannschaft nichts mehr gewinnen. Dass die Spieler diesmal die Hymne mitsingen, hat wohl mit der Verhaftung eines Nationalspielers zu tun.

Von Claudio Catuogno, al-Rayyan

Dieses Mal haben die Iraner die Hymne gesungen. Aber nicht aus voller Kehle wie die Waliser, eins werdend mit ihren Fans auf der Tribüne. Eher wie politische Gefangene, die von ihren Peinigern mit gezückter Waffe gezwungen werden, eine Loyalitätsbotschaft aufzunehmen. Auch die vielen in die iranischen Farben gehüllten Zuschauer im Hamad-bin-Ali-Stadion von al-Rayyan ahnten, dass dieser Eindruck nicht trog. Ein älterer Mann brach auf der Tribüne in Tränen aus, es wurde auf der Anzeigetafel eingespielt. Eine Frau, unverschleiert, weinte hemmungslos. Die Spieler bewegten weiter ihre Lippen, mit versteinertem Blick und mit den Gedanken vermutlich ganz woanders als bei diesem Gruppenspiel gegen Wales, das gleich beginnen sollte.

Am Donnerstag war in Iran der Nationalspieler Vouria Ghafouri verhaftet worden, einer der besten Außenverteidiger des Landes, Kurde aus der Stadt Sanandaj - und bekannter Regimekritiker. Er ist bei der WM in Katar nicht dabei, weil er sich schon im vergangenen Jahr für die Rechte von Frauen und Kurden eingesetzt hatte. Seine Verhaftung am Tag vor dem Spiel mussten die Spieler als Zeichen verstehen: Niemand, der sich gegen das Regime stellt, ist unantastbar. Und die Spieler, die vor dem ersten Gruppenspiel gegen England die Hymne noch schweigend über sich hatten ergehen lassen - sie sangen nun, tonlos, bis zum bitteren Ende.

Womöglich wird man die Iraner noch öfter singen sehen bei dieser WM. Nach dem 2:0-Sieg gegen Wales, den Rouzbeh Cheshmi (90+8.) und Ramin Rezaeian (90+11.) in der Nachspielzeit herausschossen, haben sie weiter Chancen, das Achtelfinale zu erreichen.

Ein Gespräch auf der Tribüne mit ein paar jungen Männern, die bei jedem iranischen Angriff erwartungsfroh aufspringen - und sich dann jedes Mal wieder enttäuscht in ihre Plastikstühle fallen lassen, weil der Ball wieder knapp drüber geht oder an den Pfosten. Einer trägt ein weißes Shirt mit "den Namen meiner Helden", wie er sagt. Der Name des ehemaligen FC-Bayern-Stürmers Ali Karimi ist zu lesen, der am Donnerstag seine Solidarität mit dem verhafteten Ghafouri gepostet hatte, und ein paar andere Namen, "manche sind auch schon tot". Klein in der Mitte ist ein Foto von Mahsa Amini, jener 22-jährigen Studentin, die im September in Teheran von der Sittenpolizei mitgenommen wurde, weil ihr Kopftuch angeblich nicht regelkonform saß, und die kurz darauf im Polizeigewahrsam starb. Was seither im ganzen Land die Menschen gegen die Mullahs auf die Straßen treibt.

Anderen Zuschauern, die am Freitagmittag mit Mahsa-Amini-Trikots ins Stadion kamen, wurden sie von den katarischen Sicherheitskräften abgenommen.

Das Singen der Hymne? "Ist jetzt auch schon egal", sagen die Männer auf der Tribüne, "dieses Team bedeutet uns nichts. Wir hassen es." Sie können offen sprechen, sie sind Exiliraner aus Kalifornien, rübergeflogen aus Los Angeles nach Doha, weil sie schon vor Monaten die Tickets gekauft und die Flüge gebucht hatten - "aber eigentlich wollen wir dieses Team verlieren sehen". Das deckt sich mit dem, was seit Tagen auch aus Iran über die sozialen Netzwerke nach draußen dringt: dass die Nationalelf bei der Reformbewegung allen Kredit verspielt hat, seit sie vor der Abreise nach Katar zum Staatspräsidenten Ebrahim Raisi gebeten wurde (was passieren kann) und dort Aufnahmen zufolge gute Laune hatte (was nicht passieren durfte).

In der Halbzeit, beim Stand von 0:0, checken die Exiliraner ihre Instagram-Accounts und halten einem das Display entgegen. "Schau, was die Leute in den Team-Account schreiben: ,Fuck you, fuck you, fuck you.'"

Und doch haben auch die US-Iraner mitgefiebert. Vor allem, als sich alles verdichtete am Ende einer Partie, in der die Mannschaft des portugiesischen Trainers Carlos Queiroz Angriff um Angriff vorgetragen hatte, immer vergeblich - bis der Last-Minute-Sieg doch noch gelang. Kurz liegen sich auf den Tribünen alle in den Armen. "Aber eigentlich geht's gerade nicht um Fußball in Iran."

Über das Singen hat hinterher keiner der Spieler gesprochen. Auch der Trainer nicht. Es ist offenbar ungemütlich geworden. Gewinnen können die Iraner in Katar jetzt nur noch ihre Spiele.

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