Süddeutsche Zeitung

Frankreich gegen Australien:Die französische Revolution ist abgesagt

Lesezeit: 3 min

Der Titelverteidiger kehrt in Katar zu seinem Weltmeister-System zurück: hinten Pragmatismus, vorne Spektakel. Das bringt einen 4:1-Sieg gegen Australien - aber Lucas Hernández verletzt sich schon wieder am Knie.

Von Claudio Catuogno, al-Wakra

Bis zum Unglück für den Weltmeister waren erst acht Minuten gespielt. Und das war nicht der Schuss des Australiers Greg Goodwinn, der den Ball zum 0:1 unter die Latte des französischen Tores jagte. Das Unglück war drei Sekunden vorher passiert, als Lucas Hernández im Laufduell mit Mathew Leckie plötzlich zu Boden sackte und sich mit schmerzverzerrtem Blick das Knie hielt. Leckie flankte, Goodwinn zog ab, Tor für Australien.

Da dürften spontan auch in München ein paar Menschen dreingeschaut haben, als hätten sie in eine Zitrone gebissen: Die Verletzungsanfälligkeit des 80 Millionen Euro teuren FC-Bayern-Verteidigers Hernández ist ohnehin berüchtigt, das Knie seine Schwachstelle, und nun sah alles nach einer weiteren schweren Verletzung aus. Hernández wurde vom Rasen gebracht und durch seinen Bruder Theo vom AC Mailand ersetzt.

Der Rückstand hingegen ließ sich heilen. Das erledigten zunächst Adrien Rabiot (Juventus Turin, 27. Minute) nach einer unzureichend abgewehrten Ecke mit dem Kopf sowie Olivier Giroud (AC Mailand, 32.) nach feinem Pässchen von Rabiot mit dem Fuß. Am Ende gewannen die Franzosen ihren WM-Auftakt im Al-Janoub-Stadion in der Hafenstadt al-Wakrah 4:1 (2:1).

Wie sagte schon Jacques Chirac: "Der Schlamassel fliegt immer im Geschwader."

Und trotzdem, das Unglück aus den Anfangsminuten dürfte nachwirken in einer Elf, deren Krankenstand die Tageszeitung Le Monde schon vor der Partie an einen Sinnspruch des ehemaligen Staatspräsidenten Jacques Chirac erinnerte: "Les emmerdes, ça vole toujours en escadrille." Übersetzt: Der Schlamassel fliegt immer im Geschwader. Oder etwas feiner: Ein Unglück kommt selten allein.

N'Golo Kanté, Paul Pogba, Presnel Kimpembe, Christopher Nkunku und der zweite Torwart Mike Maignan hatten schon vor der Reise nach Katar verletzt passen müssen. Dann meldete sich Karim Benzema vom Dienst ab, der Real-Madrid-Stürmer und Gewinner des diesjährigen Ballon d'Or. Der Verteidiger Raphaël Varane hat nach einer Verletzung erst kürzlich wieder mit der Mannschaft trainiert; er nahm vorerst auf der Bank Platz. Also bildete Deschamps eine Abwehrreihe mit drei Profis des FC Bayern: Benjamin Pavard rechts, Dayot Upamecano in der Mitte (neben dem ehemaligen Leipziger Ibrahima Konaté) - und Lucas Hernández links, acht Minuten lang. Nun ist die Personaldecke noch mal dünner geworden.

Es mag auch an dieser Vorgeschichte liegen, dass Deschamps die französische Revolution kurzfristig abgesagt hat. Vor vier Jahren in Russland hatte den Nationaltrainer ja der Vorwurf begleitet, er habe ausgerechnet die Elf mit den spektakulärsten Fußball-Könnern des Planeten mit "Anti-Fußball" zum WM-Titel geführt, also mit einer Art Mauern-plus-Mbappé-Strategie. Nun aber wollte er das Team weiterentwickeln, hin zu einem offensiveren Stil - exemplarisch dafür stand eine Dreier-Abwehrreihe mit zwei aufgerückten Außenverteidigern auf den Flügeln.

Vorne lässt jeder der vier unterschiedlichen Angreifer gerne auch den anderen glänzen

Doch nach nur drei Siegen in acht Länderspielen des Jahres 2022 kehrte Deschamps zum WM-Start doch zu seinem weltberühmten Pragmatismus zurück, zum 4-2-4-System, im Einklang mit den Spielern. Dies sei "der beste Weg, um so weit wie möglich zu kommen", fand auch Lucas Hernández, "in letzter Zeit waren wir defensiv nicht sehr solide. Dieses System passt gut zu uns, wir waren damit 2018 Weltmeister."

Nachdem der Widerstand der Australier gebrochen war, brachten die Franzosen neben Stabilität dann auch wieder einiges Spektakel auf den Platz. Denn vorne, das war die vielleicht wichtigste Erkenntnis, lässt jeder der vier unterschiedlichen Angreifer gerne auch den anderen glänzen. Kylian Mbappé flog mit TGV-Tempo in einen Lupfer von Antoine Griezmann und knallte den Ball knapp über die Latte (45.). Giroud zauberte einen artistischen Fallrückzieher in den Strafraum, beinahe das Tor des Turniers, aber knapp vorbei (50.). Griezmann zog den Ball nach spektakulärem Doppelpass Theo/Mbappé aufs Tor - abgewehrt. Dann legte Ousmane Dembélé ausgerechnet dem kleinen Mbappé einen Kopfballtreffer auf (68.), und schlussendlich noch einmal Mbappé: Spektakulärer Antritt auf der linken Seite, gefühlvolle Flanke, Kopfball Giroud, 4:1 (71.).

Ob das reicht, um noch mal Weltmeister werden? Das hängt auch davon ab, was noch alles im Geschwader durchs französische Quartier fliegt in den kommenden dreieinhalb Wochen.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5701375
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.