Süddeutsche Zeitung

Fußball-WM:Der ewige Geheimfavorit legt die Meisterprüfung ab

Lesezeit: 3 min

Von Martin Schneider, Kasan

Wucht und Eleganz heirateten, als Romelu Lukaku in der 31. Minute den Ball bekam. Gerade hatte Brasilien eine Ecke gehabt, der Ball flog nach vorne, und Lukaku benutzte seine 94 Kilogramm, um den Brasilianer Fernandinho nicht mal in die Nähe des Balls kommen zu lassen. Dann beschleunigte Lukaku seinen Körper. Er lief einen großen Bogen in der eigenen Hälfte, Fernandinho wollte sich ihm erneut in den Weg stellen, aber Lukaku, dieser filigrane Tanker, wackelte ihn mit einer schmetterlingshaften Bewegung einfach aus. Als sich ein gelbes Netz aus Gegenspielern um ihm schließen wollte, passte er nach rechts zu Kevin De Bruyne, fiel auf den Bauch und sah liegend, wie sein Mannschaftskollege mit einem mächtigen Rechtsschuss das 2:0 erzielte.

Es war die entscheidende Aktion des Spiels, die Aktion, die Brasilien aus dem Turnier beförderte - Belgien gewann 2:1 (2:0). Denn der Sturm, den Brasilien in der zweiten Halbzeit entfachte, prallte an Belgien ab. Mit dem Aus von Deutschland, Argentinien und Brasilien sind nun in Kasan insgesamt elf Weltmeister-Titel in der Wolga versunken. Und Belgien feierte einen der größten Siege seiner Geschichte. Der ewige Geheimfavorit hat seine Meisterprüfung bestanden und den WM-Favoriten in einem spektakulären Spiel ausgeschaltet.

Das zwischenzeitliche 2:0 von De Bruyne war der Höhepunkt einer atemberaubenden Anfangsphase, in der dieses Spiel Fußball bot und Fußball und nochmals Fußball. Brasilien drückte, Neymar tanzte auf der linken Seite wahlweise Thomas Meunier oder Marouane Fellaini aus, nach sechs Minuten lag er auch mal auf dem Boden, aber Fellaini hatte ihn auch klar mit dem Ellbogen am Kopf getroffen. Nach einer Ecke des Gescholtenen mit der Nummer zehn kniete sich Thiago Silva in den Ball und traf nach sieben Minuten den Pfosten, kurze Zeit später verpasste Miranda. Das 1:0 von Brasilien lag in der Wolga-Luft.

Der Eigentorschütze spielte nur, weil Casemiro gelbgesperrt war

Dann die 13. Minute. Ecke für Belgien von Nacer Chadli, der es nach seinem Tor gegen Japan in die Startelf geschafft hatte. Gabriel Jesus und Fernandinho gingen beide zum Ball, von Fernandinho rutschte er ins eigene Tor. Beide schauten sich danach an, als hätte sie jemand geohrfeigt. Der Eigentorschütze spielte nur, weil Casemiro gelbgesperrt war, und der Wellenbrecher der Brasilianer fehlte in jeder Aktion. Nach der Führung gewann Belgien Selbstvertrauen. Trainer Roberto Martinez hatte die Taktik ganz auf das Trio De Bruyne-Lukaku-Hazard ausgerichtet, und der Dreizack der roten Teufel stach gegen Brasilien.

Hier ein Diagonalsprint von Hazard in der 22. Minute, der knapp den entscheidenden Pass zu Meunier verpasste. Da lief De Bruyne eine Minute später alleine über die Wiese namens brasilianische Hälfte, spielte zu Lukaku, der Miranda tunneln wollte, aber knapp daran scheiterte. Und da war in der 26. Minute wieder eine Flanke von De Bruyne, die gut und gerne gefährlicher hätte enden können. Brasilien spielte weiter mutig nach vorne, Belgien bekam das Flügelduo Marcelo/Neymar zwar nicht in den Griff - dafür alle anderen, und dann setzte Lukaku zu seinem mächtigen Konter an.

Aber das Brasilien von Tite ist nicht das Brasilien von 2014. Das Team fiel nicht auseinander nach diesem Rückstand. Marcelo flankte auf Gabriel Jesus, dessen Kopfball ging neben das Tor, bei Coutinhos Versuch musste Belgiens Torhüter Thibaut Courtois seine 1,99 Meter einsetzen. Brasilien musste mit dem 0:2 in die Pause. Auf der Tribüne feierten belgische Fans, die sich als Pommes-Frites-Packung verkleidet hatten, einer hatte einer Papp-Jesus-Statue ein Belgien-Trikot angezogen.

Der Videoschiedsrichter leistet sich eine Fehlentscheidung

Nach der Pause brachte Tite Roberto Firmino für Willian, Brasilien griff weiter mit Plan an, kam aber gegen die geordnete Defensive um Vincent Kompany nicht durch. In der 56. Minute dann Verwirrung im Stadion: Kompany grätschte in den Laufweg von Gabriel Jesus, Schiedsrichter Milorad Mazic deutete auf den Boden, aber es war nicht klar, ob er den Abstoßpunkt oder den Elfmeterpunkt meinte. Der Videoschiedsrichter überprüfte die Szene und sagte: kein Elfmeter. Eine Fehlentscheidung. Danach kam Douglas Costa in die Partie, wenig später Renato Augusto für Paulinho, Tite machte damit alles richtig.

Drei Minuten später köpfte Augusto nach einer Flanke von Coutinho den Anschlusstreffer. Brasilien legte los, Belgien wankte. In der 81. Minute spielte Coutinho wieder auf Renato Augusto, der plötzlich völlig frei am Sechzehner zum Schuss kam. Er schoss am Tor vorbei, und eine Nation schlug von Rio bis zum Amazonas die Hände über dem Kopf zusammen. Neymar passte Sekunden später überlegt zu Coutinho, der verzog wieder, und die Uhr tickte. Lukaku ging vom Platz, nahm weitere Sekunden vom Platz, dann dribbelte Neymar ins Aus. In der Nachspielzeit flankte nochmal Fagner, Neymar fiel im Sechzehner, er schaute mit Angst in den Augen zum Schiedsrichter - aber da war nichts, kein Foul. Und als Courtois den letzten Schuss hielt, war auch keine Hoffnung mehr da. Belgien trifft nun am Dienstag im Halbfinale in Sankt Petersburg auf Frankreich - und egal wie die Spiele an diesem Samstag ausgehen: Erstmals seit 2006 werden nur europäische Teams im Halbfinale stehen.

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SZ vom 07.07.2018
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