Süddeutsche Zeitung

Iga Swiatek bei den French Open:Nah am Prototyp der perfekten Spielerin

Lesezeit: 3 min

Die Polin Iga Swiatek erntet bewundernde Worte von ihren Gegnerinnen, sie blicken ehrfürchtig auf die 20-Jährige - sie selbst gibt sich bescheiden und liest Lebensratgeber.

Von Gerald Kleffmann, Paris

Vor einem Jahr saß Naomi Osaka nicht hier vorne. Damals hatte sie ihre Pressekonferenz vor den French Open wegen mentaler Probleme abgesagt und eine Debatte über den richtigen medialen Umgang mit Sportlern ausgelöst. Aber jetzt war sie hier und lachte. "Ich hatte einen Traum vor ein paar Tagen", setzte Osaka fröhlich an, nachdem sie über ihre neue Lockerheit referiert hatte. Sie lote inzwischen "wie ein Stand-up-Comedian" aus, was sie sagen könne, "was okay ist und was nicht okay ist". "Die Auslosung kam raus", sagte sie, "und ich müsste gegen Iga spielen ... ich hab mich gefürchtet! Ich dachte, wer ist die schlimmste Spielerin, auf die ich als Ungesetzte treffen könnte? Und ich dachte an sie." Sie strahlte und ergänzte: "Gottseidank passierte das nicht." Pech hatte Osaka trotzdem. Amanda Anisimova, 20, war stattdessen ihre Gegnerin, schon im Januar bei den Australian Open hatte die Amerikanerin sie besiegt. Am Montag verlor Osaka, die Sand als Belag nicht bevorzugt, dann auch, mit 5:7, 4:6.

Das alles zu sagen, war dennoch völlig okay von Osaka. Niemand im Frauentennis spielt gerade gerne gegen die 20-jährige Polin. Nicht mal eine viermalige Grand-Slam-Gewinnerin wie die Japanerin.

Als Ende März die gerade gekürte Australian-Open-Siegerin und souveräne Weltranglistenerste Ashleigh Barty aus Australien überraschend ihren Rücktritt bekanntgab, war schon klar, dass Swiatek alsbald an die Spitze rücken würde. Seit dem 4. April ist sie offiziell die Nummer eins. Manchmal straucheln Profis mit einer solchen Bürde. Wie Swiatek die Lage meisterte? Zuletzt war sie Tiramisu essen, in Rom. Die Kalorienbombe hatte sie sich mit dem fünften Turniersieg in Serie verdient, schon in Doha, Indian Wells, Miami und Stuttgart hatte sie die Titel errungen. Womöglich wären mehr als 29 erfolgreiche Matches hintereinander nun Fakt, hätte sie sich in Madrid nicht eine Pause gegönnt. Auch die anderen schnauften da durch.

Diese Entwicklung, dass jemand die von Barty hinterlassene Lücke gleich derart kompetent füllt, hatte die Branche nicht erwartet. Aber so ist nun der Status quo. Swiatek ist der Maßstab. Und ihr erstes Match am Montag in Paris war gleich wieder ein Ausdruck ihres Express-Tennisstils: 6:2, 6:0 gegen die Ukrainerin Lesia Tsurenko, Dauer: 54 Minuten.

"Sie hat ein großartiges Momentum. Sie ist da nicht aus Zufall"

Am ersten Pariser Wochenende sprachen noch einmal, wie es Tradition ist bei Grand-Slam-Turnieren, die besten Spielerinnen über sich und ihre Chancen. Früher oder später tauchte bei jeder Akteurin eine Frage zu Swiatek auf. Die Antworten waren bemerkenswert. "Eine der Sachen, mit der Spielerinnen kämpfen, ist ihre Unvorhersehbarkeit", sagte die Britin Emma Raducanu, 19, immerhin US-Open-Siegerin 2021, über die Kollegin, "du kannst nicht wirklich sagen, wo der Ball hingeht." Die Tschechin Barbora Krejikova, 26, meinte: "Sie macht einen unglaublichen Job auf dem Platz, und auch außerhalb." Die Titelverteidigerin schied indes bereits aus, am Montag verlor sie, noch außer Form nach einer Ellbogenverletzung, 6:1, 2:6, 3:6 gegen die Französin Diane Parry. Die Tunesierin Ons Jabeur, 27, die als Weltranglisten-Sechste gleich unerwartet an der Polin Magda Linette scheiterte, befand zuvor: "Sie hat ein großartiges Momentum. Sie ist da nicht aus Zufall." Bianca Andreescu, ehemaliger US-Open-Champion, urteilte: "Sie setzt definitiv gerade einen hohen Standard. Mich motiviert das sehr. Sie ist wie die neue Ashleigh Barty." Alle hatten nur Worte der Bewunderung übrig.

Das hat aber auch seine Berechtigung. Swiatek kommt tatsächlich dem Prototyp der perfekten Spielerin recht nahe. Sie versucht, jede Chance zu nutzen, um einen Ballwechsel zu diktieren. Sie kann andere überfordern mit ihrer zackigen, energetischen Schlagweise samt den permanenten Rhythmuswechseln, Finten wie Stopps streut sie auch ein. Keine wirkt entschlossener, Swiatek gräbt sich regelrecht unter ihrer Kappe ein und zoomt sich in ihre Welt. Als sie 2020 die French Open gewann, mit 18, waren alle überrascht. Jetzt ist es Ehrfurcht, mit der auf sie geblickt wird. Weil sie auch sehr reif agiert.

"Die Menschen um mich herum behandeln mich etwas anders", sagt Swiatek

Eine Erklärung ihrer inneren Stabilität war damals bereits, dass sie mit Daria Abramowicz zusammenarbeitet. Die Handschrift der cleveren Sportpsychologin ist in vielen Details von Swiateks Wirken eindeutig zu erkennen, doch Abramowcz versicherte in einem SZ-Interview, dass Swiatek selbst es sei, die Dinge verändern wolle, die sich hinterfrage. Sie, die Psychologin, assistiere eher nur. Muss wohl so sein. Gerade liest Swiatek das Buch "21 Lessons for the 21st Century" von Yuval Noah Harari. Sie verschließt sich weder Lebensratgebern noch Tiramisu. Herauskommt eine gesunde, natürliche, menschliche Balance, die im Job hilft.

Das alles mag so selbstverständlich anmuten; doch seiner eigenen Linie treu zu bleiben, ist nicht so leicht, wenn viele an einem zerren, Turniere, Agenten, Medien. "Die Menschen um mich herum behandeln mich etwas anders", gab Swiatek in Paris zu, um zu betonen: "Ich bin immer noch dieselbe Spielerin und dieselbe Person. Ich kann immer noch viel verbessern." Sie gibt sich sehr bescheiden. "Seit ich die Serie startete, hab ich kein Grand Slam gespielt", sagte sie und kam zu der richtigen Schlussfolgerung: "Wir werden jetzt sehen, ob all das, was ich getan habe, genug war." Und dass einige ihrer Konkurrentinnen schon verloren haben in Paris, dafür kann sie ja wahrlich nichts.

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