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Kimmich beim FC Bayern:Die beste schlechte Lösung

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Bayern-Trainer Flick macht das wirklich nicht gern, aber er hat ja keine Wahl: Joshua Kimmich wird für die Champions League wieder zum Rechtsverteidiger - aber mit Rückkehrgarantie.

Von Christof Kneer, München

Hansi Flick war damals dabei, in Salvador, Fortaleza und Recife. Er saß als Assistent auf der Trainerbank der deutschen Nationalelf, als Jérôme Boateng in der Vorrunde der WM 2014 hinten rechts anständig verteidigte. Flick war auch vier Jahre zuvor in Port Elizabeth dabei, als Boateng bei der WM 2010 im Spiel um Platz drei hinten rechts einen seriösen Eindruck machte. Flick ist auch jetzt dabei, auf dem Trainingsplatz des FC Bayern, wo er jeden Tag sieht, wie verblüffend nah dieser Boateng seiner früheren Form wieder gekommen ist - aber natürlich: als Innen-, längst nicht mehr als Außenverteidiger.

Auf diese Idee würde Flick also niemals kommen: Boateng im Test gegen Olympique Marseille an diesem Freitag (16 Uhr) und im Champions-League-Spiel gegen den FC Chelsea am übernächsten Samstag hinten rechts einzusetzen. Obwohl er gerade sehr dringend jemanden braucht, der das wenigstens ein bisschen kann.

Man muss nicht zu den zehn besten Spielern der Welt gehören, um unersetzlich zu sein. Der Franzose Benjamin Pavard, 24, ist vermutlich nicht mal der beste Rechtsverteidiger der Welt, aber seine Stellung im Kader der Münchner gleicht etwa der von Robert Lewandowski. Wobei, Lewandowski war jahrelang unersetzlich, inzwischen könnte Flick einigermaßen guten Gewissens Serge Gnabry auf diese Position stellen. Aber wo ist der Gnabry für Pavard?

Flick sieht keine bessere Alternative zu Kimmich

Die Bayern haben Pavards Blessur immer noch nicht genau benannt, von einer "Bänderverletzung an der linken Fußwurzel" ist die Rede, die Ausfallzeit lassen die Münchner demonstrativ offen. Die französische L'Equipe schreibt von einem Bänderriss und raunt von einer vier- bis sechswöchigen Pause - in diesem Fall wäre selbst diese bis Ende August verlängerte Sonderspielbetrieb-Saison für Pavard vorbei. Flick aber hat die Hoffnung nicht aufgegeben, den Franzosen im Verlauf des Champions-League-Turniers in Lissabon (12.8. bis 23.8.) doch noch einsetzen zu können.

Wobei Flick bei so einem Satz jetzt milde schimpfen würde: Bevor jemand an Lissabon denkt, solle seine Elf bitte erst mal im Achtelfinal-Rückspiel gegen Chelsea ihre 3:0-Führung ins Ziel bringen.

In der Frage, wer Pavard ersetzen soll, steckt eine beträchtliche Fallhöhe, nicht nur, weil die Außenverteidiger im modernen Fußball viel mehr sind als bloß so Typen am Rand. Die Bayern spielen unter Flick wieder einen durchchoreografierten Fußball, die Außenverteidiger sind auf höchstem Niveau in die Spielmuster einbezogen, da kann man nicht einfach irgendjemanden hinstellen. Und Flick findet eben: auch nicht Alvaro Odriozola, den Leihspieler von Real Madrid - was die Sache innenpolitisch durchaus heikel macht.

Es ist ja nun mit Sonderspielbetrieb-Verspätung genau das eingetreten, was Flick im Winter befürchtet hatte. Da hatte der Coach aus dem Trainingslager in Katar einen öffentlichen Hilferuf ausgesandt, er könne mit diesem Kader nicht in die Rückrunde gehen, ließ er Sportchef Hasan Salihamidzic ausrichten - und meinte vor allem die Position rechts hinten. Dort hatte Flick nach Vollzug seiner Königsidee ja plötzlich nur noch Pavard; die Königsidee war, den Rechtsverteidiger Joshua Kimmich ins Zentrum der Macht zu versetzen. Es war Flicks Meistermove: Kimmich stärkte die Widerstandskräfte des Teams, bildete mit Thiago, später mit Leon Goretzka einen autoritären Block im Mittelfeld - aber eben auf Kosten der Kaderlücke hinten rechts. Pavard blieb dort im Grunde Monopolist, weil Flick dem von Salihamidzic auf die Schnelle beschafften Odriozola nie vertraute. Flick, das ist kein Geheimnis mehr, hätte andere Kandidaten bevorzugt.

Nun, da Pavard tatsächlich ausfällt, hätte Flick gerne eine Wahl, aber er findet, er hat keine. Blutenden Herzens und präzise zum Saisonhöhepunkt wird Flick seine Elf wieder zurückbauen müssen. Es wird ihm nichts anderes übrig bleiben, als Kimmich wieder nach rechts hinten zu stellen. Kimmich kann auf internationalem Niveau Rechtsverteidiger spielen, und seinen Job im Zentrum kann dann, selbstverständlich auch auf internationalem Niveau, der wiederhergestellte Thiago übernehmen.

Flick findet, dass er seiner Mannschaft das antun muss - weil jede andere Variante noch schmerzhafter wäre. Odriozola traut er es vor allem defensiv nicht zu, und alle anderen im Netz vorgeschlagenen Rechtsverteidiger-Ideen (der Linksfuß Lucas Hernandez, das Bayern-II-Talent Chris Richards) sind Flick keinen Gedanken wert - zumal Bayerns Rechtsverteidiger in einem Viertelfinale in Lissabon gleich mal Barcelona und Lionel Messi begegnen könnte.

Kimmich ist offenbar schon informiert und hat sich zum erneuten Rollentausch bereit erklärt, unter einer Bedingung: Dass es nicht für immer ist. Aber da muss er sich bei Hansi Flick wirklich keine Sorgen machen.

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SZ vom 31.07.2020
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