Süddeutsche Zeitung

DEL-Rekordtorschütze Patrick Reimer:Teil eins der Abschiedstournee hat begonnen

Lesezeit: 3 min

Auch mit 40 Jahren gehört Patrick Reimer zu den besten deutschen Eishockeyprofis. Seine 20. DEL-Saison wird trotzdem seine letzte sein. Es ist ein bewusster Schritt ins Neuland.

Von Christian Bernhard

Patrick Reimer war sich nicht sicher. Und wenn sich einer wie Reimer nicht sicher ist, kann man davon ausgehen, dass in der Deutschen Eishockey Liga (DEL) etwas Außergewöhnliches passiert ist. Der Kapitän der Nürnberg Ice Tigers, der vor Kurzem seinen 40. Geburtstag gefeiert hat, ist seit 19 Jahren in der Liga unterwegs, keiner hat mehr Tore erzielt (390), keiner mehr Scorerpunkte (844) gesammelt als er. Der Angreifer ist eine Instanz in der DEL.

Dienstagabend, Eissporthalle am Bornheimer Hang in Frankfurt. Die letzten Sekunden im DEL-Spiel zwischen den Löwen Frankfurt und den Ice Tigers laufen, es steht 1:1. Reimer schießt noch einmal, Daniel Schmölz lenkt die Scheibe ins Frankfurter Tor, 0,5 Sekunden sind da noch auf der Uhr. "Durchaus positiv" sei das gewesen, sagt Reimer trocken, er ist sich nicht sicher, ob er jemals so einen späten Siegtreffer miterlebt hat. Andere Beteiligte, die nicht so viel erlebt haben wie Reimer, fanden es "verrückt".

Das Spiel in Frankfurt wäre auch ohne das Tor in letzter Sekunde kein alltägliches für Reimer gewesen. Es war, wie er findet, ein "komisches". Denn vor dem Spiel habe es sich wie Teil eins einer Abschiedstournee angefühlt. Reimer hatte am vergangenen Sonntag bekanntgegeben, dass er am Saisonende seine Karriere beenden wird. Seine 20. DEL-Saison wird seine letzte sein.

Die Nachricht schlug in der deutschen Eishockeyszene hohe Wellen. Nationalmannschaftskapitän Moritz Müller, der mit Reimer 2018 die olympische Silbermedaille in Pyeongchang gewonnen hat, teilte mit, Reimer habe "das deutsche Eishockey mitgeprägt". Für Nürnbergs Sportdirektor Stefan Ustorf wird Reimer eine "riesengroße Lücke hinterlassen", DEL-Geschäftsführer Gernot Tripcke bezeichnete den Allgäuer als "ein Gesicht des deutschen Eishockeys der letzten Jahrzehnte". Mehrmals fiel das Wort "Legende".

Reimer freute sich über all die Nachrichten, er ist glücklich, "dass es raus ist". Und er ist froh, dass er seine Entscheidung nun in die Welt gesetzt hat. Denn am Tag nach dem Spiel in Frankfurt musste er zum Arzt, der Rücken zwickte wieder, Zwangspause. Wie lange er ausfällt, ist noch unklar. Sein Karriereende anzukündigen, wenn er verletzt ist, "hätte einen komischen Beigeschmack gehabt", findet er. Jedenfalls hat er den Zeitpunkt nun selbst bestimmt.

Die "wahrscheinlich schwierigste Entscheidung" seines Lebens zu treffen, sei deshalb besonders schwer gewesen, weil sie bedeute, "sich mit dem Gedanken anzufreunden, aus seiner absoluten Komfortzone" hinaus zu treten. "Ich verabschiede mich bewusst von dem Leben, das ich die letzten 20 Jahre als Profi und die letzten 35 Jahre als Eishockeyspieler geführt habe." Reimer ist neugierig auf das, was nach seiner Profizeit kommt. Er ist offen für vieles, auch außerhalb des Sports. Er fühlt sich so, als würde er von der Schule abgehen und ausloten, was interessant sein könnte. Dass man diese Entscheidungen "mit 40 treffen muss", sei ein bisschen ungewohnt. Deshalb verspürt er auch eine gewisse Unsicherheit: Was wartet im neuen Lebensbereich? Kann ich noch einmal eine solche Leidenschaft entwickeln?

"Wenn ich egoistisch denken würde, könnte ich sagen: läuft ja super, weiter so" - aber so denkt Reimer nicht

Wie groß seine Eishockey-Leidenschaft noch ist, wird an vermeintlichen Kleinigkeiten ersichtlich. So kann Reimer sich auch nach 1051 DEL-Spielen immer noch daran erfreuen, wenn in gegnerischen Stadien bei der Vorstellung der Startaufstellungen beider Teams bei seinem Namen geklatscht wird, wie in Frankfurt. Und er hasst das Verlieren immer noch "unfassbar", selbst in Trainingsspielchen, erzählte jüngst sein Teamkollege Marcus Weber. Und: Reimer ist auch mit 40 noch richtig gut.

Angesichts seiner Statistiken drängt sich die Frage auf, wieso er trotz seines fortgeschrittenen Profisportler-Alters aufhört - und damit sind nicht nur die historischen Rekordzahlen gemeint. Reimer ist auch in der aktuellen Saison Topscorer der Ice Tigers und liegt mit zehn Toren und 18 Vorlagen ligaweit unter den 15 besten Scorern. "Wenn ich egoistisch denken würde, könnte ich sagen: Läuft ja super, weiter so." Doch Reimer will es nicht nur aus seinem Blickwinkel betrachten. Er denkt für drei weitere Menschen mit, seine Frau und seine zwei Kinder. Eines davon kommt jetzt ins Kindergartenalter, der Lebensmittelpunkt der Familie ist in Mindelheim, Reimers Geburtsort. Er wollte sie da nicht herausreißen.

Der einzige DEL-Profi, der drei Mal zum Spieler des Jahres gewählt wurde, findet es schön, dass es für ihn diese Saison "noch mal so gut läuft" und er zeigen könne, "dass ich selbst im hohen Alter noch auf diesem Niveau mithalten kann". Er findet es zugleich schön, auf diesem Niveau aufhören zu können - und nicht zu gehen, wenn man ihn vom Eis tragen müsste. Umso mehr hoffen die Ice Tigers, ihren "unfassbaren Leader", wie Weber ihn nennt, bald schon wieder auf dem Eis zu sehen. In der Tabelle befindet sich Nürnberg als Zwölfter in Reichweite der Pre-Playoff-Plätze, aber auch nur knapp vor der Abstiegszone.

Reimer hofft, dass ihm das Schicksal seines Allgäuer Freundes Sebastian Furchner erspart bleibt, der sich verletzungsbedingt nicht auf dem Eis verabschieden konnte. Und er möchte seine letzten DEL-Monate genießen, mit allem, was dazugehört: das Zusammensein mit jungen Mitspielern, deren Vater er sein könnte und denen er schon mal sagen muss, dass sie ihn nicht siezen sollen, ja sogar die stundenlangen Busfahrten kreuz und quer durch die Republik. Reimers Ziel ist, noch einmal in den Playoffs zu spielen "und den Traum zu leben". Den Traum vom Meistertitel, der ihm noch fehlt.

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