Süddeutsche Zeitung

Borussia Dortmund:Sorgenkinder, die wie bei Youtube zaubern

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Von Sebastian Fischer, Ingolstadt

Als hätte Matthias Ginter an die Macht der Bilder gedacht, lief er im Moment seines ganz persönlichen Triumphs zu einem Dortmunder Fotografen hinter dem Ingolstädter Tor und umarmte ihn. Zuvor hatte er die Arme zum Jubeln ausgebreitet und die Freude über seinen Treffer zum 1:0 für Borussia Dortmund gegen den FC Ingolstadt in die Welt geschrien.

Sein letztes bekanntes Jubelfoto datiert vom Sommer 2014, er hielt damals einen goldenen Pokal in den Himmel über Rio de Janeiro. Ginter, 21, darf sich ja Weltmeister nennen, obwohl er in Brasilien kein einziges Mal für Deutschland spielte. Die Bilder der Monate danach waren jedoch eher traurig. Denn der Zugang aus Freiburg musste als Symbol der enttäuschenden Saison herhalten: Der zehn Millionen Euro teure Verteidiger, dem Fehler passierten, der auf der Bank saß, der für die Dortmunder Reserve spielte. Im Sommer wollte ihn Borussia Mönchengladbach kaufen, Ginter war nicht abgeneigt.

Und jetzt? Dortmund führt nach dem zweiten 4:0-Sieg der Saison nach zwei Spielen die Tabelle an. Das Motiv: Ginter, Schütze des wegweisenden Tors, jubelnd.

Eine Kapelle, die harmonisch zusammenspielt

Thomas Tuchel schien überrascht zu sein, als er am Sonntagabend über seinen Verteidiger sprechen sollte. "Was das für ihn bedeutet?", fragte der Dortmunder Trainer. Klar: Es ist zu früh, irgendjemanden zum symbolischen Vertreter der erstaunlichen Dortmunder Form zu erheben, zumal um Ginter jüngst erst noch der VfB Stuttgart gebuhlt hat.

Immerhin sagte Tuchel: "Er ist auf dieser Position absolut konkurrenzfähig, das erweitert seine Möglichkeiten zu spielen." Er hatte den Innenverteidiger, auch der Hüftverletzung von Lukasz Piszczek geschuldet, als Rechtsverteidiger aufgeboten. Dort spielte Ginter gut, konzentriert und mit Offensivdrang, Marcel Schmelzer spielte auf der Gegenseite noch besser. Und das verriet dann tatsächlich viel über die Gründe der ersten Tabellenführung für den BVB seit knapp zwei Jahren. Am Sonntagabend formulierte das niemand so treffend wie der gegnerische Trainer Ralph Hasenhüttl, der sich ob der Niederlage gegen klar überlegene Dortmunder beim besten Willen nicht grämen wollte. Er sagte: "Die laufen hier ja mit der vollen Kapelle auf."

Das ist das Erstaunliche in den ersten Wochen dieser Saison: Der BVB unter Tuchel ist wieder eine Kapelle, die harmonisch zusammenspielt. Und selbst die Musiker, die lange keinen Ton mehr trafen, grooven gerade mit.

Schmelzer hatte in der Vorsaison so viele Flanken und Freistöße so weit hinters Tor geschlagen, dass man glauben konnte, er habe sein Instrument verlernt. Er spielte sich auch aus dem Blickfeld von Nationaltrainer Joachim Löw. In Ingolstadt war er auffälligster Dortmunder, zog zum Tor oder sprintete zur Grundlinie, spielte den Ball präzise in den Rückraum, war so effektiv und immer wieder gefährlich. Nicht zufällig holte er den Elfmeter vor dem 2:0 durch Marco Reus heraus. Ginter war nicht ganz so auffällig, doch er hatte ja auch in der Bundesliga noch nie zuvor als Außenverteidiger gespielt. Das sei "ein Mix zwischen Innenverteidiger und Sechser", beschrieb er die ungewohnte Aufgabe.

Das ganze Dortmunder Spiel wirkte in Ingolstadt wie im Fluss. Wo in der Vor- saison die einzelnen Mannschaftsteile jeweils die Schuld an der nächsten Nieder- lage zu vermeiden suchten, wo Stürmer achselzuckend nach hinten schauten und Verteidiger mit dem Finger auf glücklose Angreifer zeigten, komponieren nun alle gemeinsam erfolgreichen Fußball.

Schmelzer und Ginter hatten nur so viel Platz, weil die Mittelfeldspieler Gegner banden und den Ball messerscharf in kleine Lücken passten, wie Ilkay Gündogan, oder selbst dribbelten, wie Henrikh Mkhitaryan. Wer sehen will, welch feiner Fußballer der Armenier ist, muss sich neuerdings keine Youtube-Videos mehr anschauen von ukrainischen Ligaspielen, in denen Mkhitaryan einst das Interesse vieler Topklubs weckte. Seine Klasse zeigt er jetzt im BVB-Trikot.

Die Tabelle? "Kann gerne so bleiben"

Andererseits: Er hätte in der ersten Halbzeit auch schon die gelb-rote Karte gezeigt bekommen können, nach zwei klaren Fouls und einem Handspiel.

Es ist noch nicht alles gut beim BVB, die Chancenverwertung in der ersten Spielhälfte gegen Ingolstadt war fahrlässig. Und die Eindrücke von den drei hanebüchenen Gegentoren in den ersten 22 Minuten beim 4:3 gegen Odds BK in der Europa-League-Qualifikation sind noch frisch. Doch es sind gerade die Reaktionen auf Misserfolge, die Tuchel an seiner Elf gefallen. "Ich bin sehr zufrieden, dass wir es geschafft haben, uns in der zweiten Hälfte von dem Ärger frei zu machen", sagte er. Und lachte, angesprochen auf die Tabelle: "Das kann gerne so bleiben."

Ob es so bleiben kann, das wird sich später gegen andere Gegner zeigen. Doch was jetzt schon sicher zu sein scheint, formulierte wieder der weise Österreicher Hasenhüttl: "Wir haben heute definitiv nicht den letzten Sieg des BVB gesehen."

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Quelle:
SZ vom 25.08.2015
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