Süddeutsche Zeitung

Staatsdoping in Russland:Rufe nach ernsthaften Sanktionen verhallen

Lesezeit: 4 min

Von Johannes Aumüller und Thomas Kistner

Als der schottische Funktionärs-Veteran Craig Reedie,78, am Montagmittag vor die Presse trat, sagte er ein paar Sätze, die ebenso eindeutig wie altvertraut klangen. "In der strengstmöglichen Art und Weise" habe der Vorstand der von ihm präsidierten Welt-Anti-Doping-Agentur (Wada) auf die fortgesetzte Manipulation in Russlands Staatsdoping-Affäre reagiert. Zugleich wahre das Urteil "die Rechte der russischen Athleten, die beweisen können, dass sie von den betrügerischen Handlungen nicht profitiert haben".

Sanktionen? Strenge? Schutz für saubere Athleten? So klang das auch schon vor zwei Jahren, kurz vor den Winterspielen 2018 in Pyeongchang. Damals gaben sich die zuständigen Sportfunktionäre auch furchtbar unbeugsam, sie verhängten - formal - einen Ausschluss Russlands und ließen dann locker 168 Sportler zu, die unter dem alles verschleiernden Titel "Olympische Athleten aus Russland" starten durften. Für wen die wohl am Start waren? Zwei Dutzend von ihnen gewannen am Schlusstag das Eishockeyfinale und sangen, demonstrativ auf dem olympischen Eis, die russische Nationalhymne. Die Farce von Pyeongchang dokumentierte eindrucksvoll: Das angeblich so hart bestrafte Russland war mitten drin bei diesen Spielen.

Am Montag erfolgte nun die nächste angeblich strenge Entscheidung. Dabei dürfte es wieder ähnlich ablaufen wie in Pyeongchang, dafür ist bereits gesorgt. Formal beschloss die Wada-Exekutive, den Empfehlungen ihrer unabhängigen Prüfkommission zu folgen und Russlands Anti-Doping-Agentur (Rusada) für vier Jahre zu suspendieren, weil Moskau der Wada tausendfach manipulierte Labordaten übergeben habe. Dazu verhängte es einen vierjährigen Bann über den russischen Sport. Russland darf in dieser Zeit weder an den Sommerspielen in Tokio 2020 noch an den Winterspielen in Peking 2022 noch an Weltmeisterschaften teilnehmen, auch nicht an der Fußball-WM 2022 in Katar. Zugleich darf das Land in diesem Zeitraum keine Sportveranstaltungen ausrichten.

Aber erstens ist die Entscheidung nicht endgültig, Russland kann vor den Internationalen Sportgerichtshof (Cas) ziehen. Zweitens ist der Spruch so wachsweich, dass es sich faktisch eher um ein erweitertes nationales Wimpel-Verbot handelt: Gesperrt wird Russland nur als Begriff.

Tatsächlich dürfen russische Sportler nach einer Integritätsprüfung an den Wettbewerben als "neutrale Athleten" teilnehmen - gern auch in Teamstärke wie bei der Fußball-WM . Die Bedingungen für eine Zulassung klingen aber recht dehnbar. Laut Prüfkommission dürften Athleten starten, die nachweisen können, "in keiner Weise" ins Manipulationssystem verstrickt zu sein. Sie dürften nicht "unter inkriminierenden Umständen" im McLaren-Bericht auftauchen, in dem der Anwalt Richard McLaren 2016 das Staatsdopingsystem festhielt. Auch dürften keine positiven Ergebnisse für sie in der im Januar übergebenen, porentief bereinigten Datenbank gemeldet und "keine Daten in Bezug auf ihre Proben manipuliert" sein. Es ist nur die Frage, wie viele Athleten diese Kriterien betreffen. Die Wada konnte zwar mithilfe forensischer Methoden herausfinden, bei welchen Namen es zu Manipulationen kam. Von 145 Sportlern "in der Zielgruppe der verdächtigsten Athleten", sprach Jonathan Taylor, der Vorsitzende der Prüfkommission. Allerdings dürften zahlreiche Namen davon irrelevant sein: Denn die Daten wurden zwar bis Anfang 2019 manipuliert, sie beziehen sich aber auf Labor-Vorgänge im Zeitraum von 2012 bis 2015.

Mancher Athlet beendete seine Karriere seither. Aber selbst falls es bei einem aktiven Sportler zum Nachweis kommt, dass an seinen Daten manipuliert wurde, steht keineswegs fest, dass das auch den Ausschluss zur Folge hat - oder ob sich nicht vorm Sportgerichtshof Cas die Argumentation durchfechten lassen wird, dass der Athlet doch nichts dafür könne, wenn sich unbekannte Dritte an seinen Daten vergreifen. Das ist ein höchst realistisches Prozess-Szenario: Schon vor zwei Jahren folgte der Cas bei einzelnen verhängten Sperren den Funktionären nicht und sprach individuelle Sportler frei - aus Mangel an Beweisen.

Wenn es gut für sie läuft, werden es die Russen also sogar schaffen, dass sie bei den beiden nächsten Olympischen Spielen mit einem größeren Kontingent an den Start gehen, als dies zuletzt bei den Winterspielen in Pyeongchang (168 Starter) und Rio de Janeiro (282) der Fall war.

Zudem geht es darum, welche Events überhaupt unter den Bann fallen. Die Fußball-EM 2020 etwa tut dies laut Wada nicht. In anderen Sportarten wiederum sind nach Angaben ihrer Prüfkommission Weltcups nicht betroffen, sondern nur Weltmeisterschaften. Zugleich gibt es bei nach Russland vergebenen Events wie der Rodel-WM 2020 oder der Eishockey-WM 2023 ein kleines Hintertürchen, dass sie doch in Russland stattfinden. Veranstaltungen wie die Formel-1-Rennen in Sotschi sind außen vor, weil ihre Veranstalter den Wada-Code nicht unterzeichneten. Es müsse stets im Einzelfalle entschieden werden, heißt es bei der Wada-Prüfkommission.

Der Cas dürfte bald viel zu tun haben. In der ganzen Debatte verhallten stets die Rufe derer, die für ernsthafte Sanktionen plädierten. Im Fall der russischen Wiederholungstäter machten sich unter anderem Athletenvertreter für eine Höchststrafe stark: Komplettausschluss für Russland und nicht nur für die russische Fahne. Nach SZ-Informationen sollen einige Wada-Vorstände noch vor Sitzungsbeginn für ein härteres Vorgehen plädiert haben. Aber im Sport werden Beschlüsse gern einstimmig gefällt: Es geht um das Wohl der olympischen Familie. Und so bleibt ein Urteil, das Travis Tygart, Chef der US-Anti-Doping-Agentur Usada, so kritisiert: "Russland dem kompletten Bann entkommen zu lassen, ist der nächste verheerende Schlag für saubere Athleten, glaubwürdigen Sport und Rechtsstaatlichkeit." Tygart rief alle, die den Sport schätzten, zu einer "Revolte gegen das kaputte System" auf.

Eine gewisse erwartbare Empörung herrschte auch in Moskau. Ministerpräsident Dmitrij Medwedjew sprach von "antirussischer Hysterie", aber das Wort zum Sport fand am Montag sein Sportminister. Der warf der Wada vor, sie hätte Russland doch an der Untersuchung jener Daten beteiligen sollen, die gefälscht zu haben den Russen vorgeworfen wird. Großartige Idee: Dann hätte sich der Sport all den Kongress- und Sitzungsstress sparen, das Resultat der Moskauer Selbstuntersuchung vorwegnehmen und sofort auf Freispruch entscheiden können. Andererseits: So können Sport und Russen wenigstens erzählen, man habe brutalstmögliche Strafen verhängt - beziehungsweise zu erdulden.

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Quelle:
SZ vom 10.12.2019
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