Süddeutsche Zeitung

Chemnitz 99ers in der BBL:Das Werk des Menschenfängers

Lesezeit: 3 min

Leichte Gegner? Günstiger Spielplan? Egal. Die Siegesserie der Chemnitzer Basketballer wird immer unheimlicher. Trainer Rodrigo Pastore ist es gelungen, eine außergewöhnliche Truppe aus Quereinsteigern und bislang Übersehenen zu formen.

Von Jonas Beckenkamp

Für Siege muss man sich nicht genieren, man sollte sie hegen und pflegen wie liebgewonnene Traditionen, schließlich kann alles schnell vorbei sein im Sport. Bei den Bundesliga-Basketballern aus Chemnitz kennen sie solche Hochgefühle nach wettbewerbsübergreifend 16 Erfolgen in Serie, und sie haben derzeit nicht vor, ihren Lauf einzustellen. Im Gegenteil: Neuerdings sind die 99ers, Deutschlands formstärkstes Team im Profi-Basketball, auch noch Tabellenführer der Bundesliga (BBL). Platz eins, vor dem Meister aus Ulm, der sich am Wochenende einen Ausrutscher gegen die Rostock Seawolves erlaubte.

Über den Aufschwung in Sachsen staunt die Branche seit Wochen, denn dort entwickelt sich abseits der großen Standorte in Berlin oder München eine Geschichte, die so langsam akut unter Rekordverdacht steht. Noch zwei Siege, dann würden die Chemnitzer die Bestmarke von 18 aneinandergereihten Erfolgen der Telekom Baskets Bonn aus der Vorsaison einstellen. Als "Wellenreiter auf Reisen" bezeichnet sich der Klub deshalb selbst auf seiner Webseite - eine Überschrift wie ein verbales sich Kneifen, ob das alles wahr ist.

Wer nörgeln mag, findet natürlich immer Einschränkungen. Waren die Siege nicht glanzvoll? Haben die Gegner ihre Spiele abgeschenkt? Wurde geschummelt? Nein, im Chemnitzer Fall ließe sich allenfalls einwenden, dass der Spielplan den 99ers ein paar herbstliche Vorweihnachtsgeschenke bescherte.

Seit der Auftaktniederlage in der Liga gegen Ulm fehlt bei näherer Betrachtung ein richtig namhafter Widersacher, Chemnitz spielte weder gegen den FC Bayern noch gegen Alba Berlin (beide Ligaduelle folgen bald) - und im unterklassigen Europe Cup genossen sie exotische Betriebsausflüge ins Basketball-Hinterland zu Heroes Den Bosch (Niederlande) oder zu Spójnia Stargard (Polen). Andererseits sind die Niners - großteils sogar verletzungsgeplagt - über so manchen Gegner hinweggefegt. Gleich siebenmal gewann das Team von Trainer Rodrigo Pastore mit mehr als 20 Punkten Unterschied.

Beachtlich, wenn man die Leistungsdichte der Liga und den Kräfteverschleiß im Basketball mit seiner engen Spieltaktung bedenkt. "Wir hatten noch kein einziges Spiel, in dem wir in voller Mannstärke auftreten konnten. Und die Jungs lassen es dennoch leicht aussehen", sagt Pastore.

Die Jungs, das sind Spieler wie der Amerikaner Wes van Beck, 27, der zuletzt als Dreierwerfer glänzte. Oder Dirigent DeAndre Lansdowne, 34, der viele richtige Entscheidungen trifft. Oder der kanadische Kreativspieler Kaza Kajami-Keane, 29, mit seinem Gespür für Durchbrüche und Pässe.

Pastore, der seit 2015 bei den 99ers an der Seitenlinie tätige Menschenfänger aus Buenos Aires, erklärt die Chemnitzer Kernkompetenz so: "Was die Leute von außen nicht so mitbekommen können, ist diese großartige Arbeitseinstellung, dieser Zusammenhalt". Nach mancher Undiszipliniertheit in der vorigen Saison (etwa beim Dopingfall von Jungprofi Jason George) haben die Klubverantwortlichen personell einiges umgekrempelt.

Der Fokus liegt auf Abgezocktheit, Teamfähigkeit und einem gewissen Außenseitertum. Wer als Basketballer in der Nische vergessen worden ist (van Becks Vita enthält etwa Stationen in Kolumbien oder Estland) oder dringend etwas zu beweisen hat (wie der deutsche Center Kevin Yebo, der zwischenzeitlich sogar in die 2. Liga gewechselt war), fand bei den 99ers eine zweite Chance.

Das mache die "besondere Mentalität" des Teams aus, wie das Chemnitzer Urgestein Jonas Richter (über 300 Spiele für die Niners) berichtet: "Alle hier wollen besser werden, jeder hat sich seinen Platz durch harte Arbeit und über Umwege erkämpft." Ähnlich beschrieb es auch van Beck, geborener Texaner, gegenüber Bild: "Wir haben eine Menge Blaumann-Typen im Team", Leute aus der working class des Basketballs, "Jungs, die wirklich dafür kämpfen und arbeiten mussten, dass sie da sind, wo sie jetzt sind." Solche Werdegänge prägen den Charakter einer Sportmannschaft manchmal mehr als reines Talent.

Ob diese Mischung aus den richtigen Einzelschicksalen und verborgenem Können den Klub durch die ganze Saison trägt, darüber spekulieren Beobachter nun akribisch. Falls dem so ist, dürfte es am Ende auch darum gehen, den Kader irgendwie zusammenzuhalten. Doch vorher geht es erst einmal darum, die Serie aufrechtzuerhalten - und zwar jetzt auch gegen richtig gute Gegner: Am Mittwoch gastiert Europapokal-Favorit Varese in Chemnitz und am Samstag steigt im Pokal das Topduell gegen Ulm. Da haben die Niners ohnehin noch eine Rechnung offen.

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